Auslandssemester„Ich wollte etwas Exotischeres als Europa“
17. November 2016, von Internetredaktion

Foto: CESL
Erasmus in Madrid? Nicht aufregend genug. Der polnische Jurastudent Bartosz Krysiak setzt sich in seinem Auslandssemester in Peking lieber mit chinesischem Recht auseinander.
Erasmus in Madrid? Nicht aufregend genug. Der polnische Jurastudent Bartosz Krysiak setzt sich in seinem Auslandssemester in Peking lieber mit chinesischem Recht auseinander.
„Was ist wichtiger? Politische Grundrechte wie etwa das Wahlrecht oder soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit?“, fragt Professor Xie Libin. Es ist 14 Uhr im Mingfa Gebäude, Raum 210, auf dem Campus der China-EU School of Law im Nordwesten Pekings. Bartosz Krysiak, 23-jähriger Austauschstudent von der Jagiellonen-Universität in Krakau schaut den chinesischen Professor mit gerunzelter Stirn an. Hinter Xie Libin leuchten in großen Buchstaben einige soziale Rechte aus Chinas Verfassung auf einer PowerPoint-Folie: § 42 das Recht auf Arbeit, § 43 das Recht auf Arbeitspausen, § 44 das Recht auf Rente. Xie Libin hakt nach: „Wenn Ihr euch entscheiden müsstet, was würdet Ihr wählen?“. Zwei Reihen vor Bartosz hebt der chinesische Student Yue Peng in blauem Hemd und gelbem Pullunder die Hand. „Soziale Rechte“, sagt er. Xie Libin nickt. „Das würden die meisten Chinesen sagen.“ Der hochgewachsene, junge Professor schaut kurz zu Bartosz. „Für westliches Empfinden mag das eine merkwürdige Prioritätensetzung sein. Aber China war lange ein bitterarmes Land. Ein Arbeitsplatz oder die Rente scheint den meisten Chinesen wichtiger als das Wahlrecht oder die Meinungs- und Religionsfreiheit.“
Chinesische Professoren erklären chinesisches Recht
30 Jurastudenten aus China und Europa sitzen in Xie Libins Vorlesung. Bartosz ist einer von 18 Europäern, die das Austauschprogramm „Chinesisches Recht in englischer Sprache“ an der China-EU School of Law belegen. Ein Wintersemester vollgepackt mit chinesischem Verfassungsrecht, Wirtschaftsrecht, Strafrecht und Verwaltungsrecht – immer im Vergleich mit europäischen Rechtssystemen. Die Professoren, abgesandt von Chinas größter Rechtsuniversität China University of Political Science and Law, besuchen mit den Studenten außerdem chinesische und internationale Kanzleien im Zentrum Pekings und beobachten Zivil- und Strafrechtsprozesse.
Heute nun dreht sich alles um das Thema Grundrechte. Professor Xie Libin unterrichtet den Verfassungsrecht-Kurs gemeinsam mit Professorin Susan-Gale Wintermuth. Er lehrt die chinesische Verfassung, sie die Verfassungen der EU. „Ich betone in jeder Vorlesung, dass es kein Richtig oder Falsch gibt“, erklärt Wintermuth. Sie lehrt im Wintersemester in Peking und im Sommer in Bilkent in der Türkei und in Riga in Lettland. „Jede Verfassung kann man nur innerhalb ihres kulturellen und historischen Kontextes verstehen.“ Die quirlige Juristin achtet auch darauf, dass die Studenten Aufgaben in gemischt chinesisch-westlichen Gruppen erarbeiten. „Im direkten Gespräch können sich die Studenten am besten über ihr Rechtsverständnis austauschen.“ Bartosz diskutierte zuletzt mit Katherine aus Hamburg und He Shuang aus der chinesischen Provinz Hubei.
„Die europäischen Jurastudenten zogen anfangs voreilige Schlüsse“
„Das sind heiße Diskussionen in diesen Arbeitsgruppen“, berichtet Student Yue Peng. „Bei chinesischen und westlichen Jurastudenten prallen sehr unterschiedliche Vorstellungen aufeinander.“ Peng rückt seine runde Brille zurecht. „Für mich war das extrem interessant, Fragen zu hören wie: Habt Ihr denn wirkliche Grundrechte in China? Die europäischen Studenten haben anfangs oft voreilige Schlüsse gezogen, jetzt schauen sie sich tatsächlich erst mal die Fakten an, ehe sie über das chinesische Recht urteilen.“
Keine Studiengebühren für Studenten der Partnerunis
In China gibt es nur eine Handvoll Universitäten, an denen sich Jurastudenten auf Englisch mit chinesischem Recht beschäftigen können. Ob in einem kompletten, einjährigen Masterstudium oder in einem Austauschsemester, ist von Universität zu Universität verschieden. Je nach Umfang und Standort können die Programme bis zu 160.000 Yuan kosten, fast 22.000 Euro. Die China-EU School of Law ist die einzige Hochschule, die den Studenten ihrer 13 europäischen Partneruniversitäten, darunter auch Polens älteste Universität, die Jagiellonen-Universität in Krakau, mit einem Vollstipendium die Studiengebühren erlässt.
„Sinnvoller als ein halbes Jahr Party“
„Ich wollte ein sinnvolleres Auslandssemester als ein halbes Jahr Party, so wie Erasmus-Studenten das oft erzählen, und dabei etwas Exotischeres erleben als Europa“, sagt Bartosz, während zwei Plätze neben ihm sein Kommilitone Michał beide Arme hebt und mit seinem Tablet das Tafelbild abfotografiert. Bartosz kam vor knapp zwei Monaten zu Kursbeginn das erste Mal nach China. „Ich lerne hier viel über Recht und über das Leben“, zieht er Zwischenbilanz. Einiges sieht er kritisch. „Es ist eine Sache, eine Verfassung zu haben und eine andere, wie leicht die Bürger ihre Grundrechte auch einfordern können“, sagt er, relativiert dann aber: „Vor der Herausforderung stehen auch viele andere Nationen.“ Und der Kontakt mit Chinesen? „Außerhalb der Kursgruppen eher begrenzt“, bedauert Bartosz. „Bei den meisten habe ich den Eindruck, sie zögern sehr, mit uns Englisch zu sprechen aus Angst vor Fehlern.“ Einzelne allerdings, wie etwa Yue Peng, seien offen und sprächen viel mit ihren europäischen Kommilitonen. „Genau dann wird es interessant“, findet Bartosz.