Per Knopfdruck durchs Steuerrecht – Que Linyao ist Gaststudentin an der WU Wien
29. Mai 2017, von Internetredaktion

Foto: CESL/WU Vienna
Vor rund 100 Jahren war Wien das geistige Zentrum der Welt, der intellektuelle Ort, an dem disruptive neue Gedanken entstanden, die das ganze 20. Jahrhundert prägten. In Wien stritt sich der Soziologe Max Weber mit dem jungen Ökonom Joseph Schumpeter, Sigmund Freud erfand die Psychoanalyse und Arnold Schöneberg revolutionierte das Komponieren. Als Versuchslabor neuer Ideen entdeckt heute auch die Studentin der China-EU School of Law, Que Linyao, die österreichische Hauptstadt, genauer: die Wirtschaftsuniversität Wien.
„Ich finde es für jeden Studenten sehr wichtig, mindestens einmal ins Ausland zu gehen”, erklärt die 23-Jährige, während sie im Studentenwohnheim im Bezirk Donaustadt, unweit der Donau und dem UNO-Sitz Wien, ihre Tasche für die nächste Vorlesung packt. Über neue Perspektiven nur zu sprechen und sie sich vorzustellen, reiche nicht. „Verschiedene Lebensstile musst du ausprobieren, wenn du entscheiden willst, wie du selbst leben möchtest“, sagt sie.
Que Linyao, schwarzes Haar bis über die Schulter, dezentes Make-up, weißer Blazer und Boyfriend-Jeans, ist eine überragende Jurastudentin. Beim Vis East Moot 2017 in Hong Kong, einem der renommiertesten Studentenwettbewerbe für Wirtschaftsrecht der Welt, wurde sie in der Proberunde als zweitbeste Rednerin ausgezeichnet. Jetzt verbringt sie sechs Wochen als Gaststudentin im Masterstudiengang Wirtschaftsrecht an der Wirtschaftsuniversität Wien. Mit chinesischem Steuerrecht hat sie sich bereits in Peking beschäftigt, nun befasst sie sich zum ersten Mal mit EU- und internationalem Steuerrecht. Gerade für Jurastudenten sei unverzichtbar wertvoll, verschiedene Rechtssysteme zu untersuchen, ist sie überzeugt. „Das Gelernte kann helfen, das eigene Rechtssystem kritisch zu betrachten und es weiterzuentwickeln.“
Que Linyao ist eine von 90 chinesischen Studierenden der China-EU School of Law, die diese Jahr bis zu zwei Monate an einer der europäischen Partneruniversitäten in Europa Jura studieren. Die China-EU School of Law bietet diese sogenannten Wahlmodule seit 2014 an. Dieses Jahr in Hamburg, Maastricht, Budapest, Lund, Straßburg, Madrid – und eben in Wien. „Die Studenten haben dabei nicht nur Möglichkeit, eine europäische Rechtshochschule von innen zu sehen, sie profitieren vor allem akademisch davon, neue Rechtsperspektiven und Lernmethoden kennenzulernen und ihr Englisch zu perfektionieren“, sagt Harald Eberhard, Professor für Öffentliches Recht und China-EU School of Law Koordinator an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Mit diesem Fokus auf das Fachliche bei einem Auslandsaufenthalt im Studium liegt die China-EU School of Law voll im Trend. Laut einer Studie des Berliner Mercator Instituts für China-Studien ist die freie Studienfachwahl die Hauptmotivation junger Chinesen, im Ausland zu studieren. Der Strom chinesischer Studenten in westliche Länder wuchs insgesamt in den vergangenen Jahren stark an. 2016 studierten laut chinesischem Bildungsministerium 544.000 Chinesen im Ausland, mehr als dreimal so viel wie im Jahr 2008.
Sie bemerke am deutlichsten, dass sie nicht in China ist, wenn die Sonne nicht untergeht, sagt Que Linyao. In Peking wird es im Mai um acht Uhr dunkel, in Wien dagegen ist es auch mehr als eine Stunde später noch hell. „Mir gefällt das, dass sich die Tage so etwas länger anfühlen“, sagt sie.
Herausfordernd sei dagegen der Studienalltag. Es gebe „große Unterschiede“ zwischen dem oft eher vortragsorientierten Lehrstil chinesischer Professoren und dem eher gesprächsorientierten Stil österreichischer Professoren. „In der Steuerrechts-Vorlesung stellt Professor Alexander Rust viele Fragen und die Studenten beteiligen sich aktiv“, berichtet sie. “Manchmal ruft er auch einfach per Zufall irgendjemanden auf.“ Ihr Herz schlug höher, als sie selbst das erste Mal an der Reihe war. Aber die Frage sei "grundlegend" gewesen, sagt Que Linyao, es gelang ihr, sie richtig zu beantworten.
Im Wiener Kurs benutzte sie auch zum ersten Mal Clicker: kleine Geräte, die aussehen wie Fernbedienungen, ganz ähnlich denen, die das Publikum von Quizshows im Fernsehen nutzt. Prof. Rust findet mit der Technik heraus, ob alle Studenten den Stoff verstanden haben. Er stellt Multiple-Choice- oder Ja-Nein-Fragen, gibt den Studenten dann ein paar Minuten Zeit, um nachzudenken und sich zu beraten, ehe sie sich per Knopfdruck für eine Lösung entscheiden. Per Funk übermitteln die Clicker Prof. Rust dann die Antworten, die nach sekundenschneller Auswertung im Gesamtüberblick anonym in der PowerPoint-Präsentation erscheinen. Geben zu viele Studenten die falsche Antwort, kann Prof. Rust noch einmal anders erklären.
Am interessantesten findet Que Linyao am Jurastudium nach wie vor den Rechtsvergleich. „Im ersten Semester dachte ich, dass Jura wie Mathematik funktioniert, wo es auf jedes Problem auch genau eine korrekte Antwort gibt.“ Gerade im Chinesischen Recht, einem Civil-Law-Rechtssystem mit vom Gesetzgeber kodifizierten Gesetzen, das einen anderen Ansatz verfolgt als etwa das US-Common Law-Rechtssystem, das auf Präzedenzfällen beruht. Als sie ihre ersten Fälle bearbeitete, fand sie schwierig, dass ihr auch die chinesischen Gesetze nicht für jeden Fall bis ins Detail eine Vorgabe lieferten, sondern erst auszulegen waren. „Heute ist mir klar, dass Gesetze in China wie in Europa historisch zu dem geformt wurden, was sie heute sind.“ Mit neuen Entwicklungen auf der Welt könne sich auch das Recht weiter verändern, ist Que Linyao überzeugt. „Gesetze sind immer in Bewegung, sie entwickeln sich weiter, das macht Jura ja so spannend.“