MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung)
Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Peter Wetzels zu seinem aktuellen Forschungsprojekt.
Der Forschungsverbund MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungscluster, das sich mit der Früherkennung, Prävention und Bekämpfung von Extremismus befasst. Das Projekt wird seit Ende 2019 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Bundesministerium des Inneren und für Heimat gefördert. Neben dem Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der UHH sind weitere acht Projektpartner aus fünf verschiedenen Orten in Deutschland an dem Projekt beteiligt. Alle Projektpartner widmen sich in einem interdisziplinären Zugang der Erfassung und Erforschung von Radikalisierung und politischen Extremismen in Deutschland, u.a. anhand von Methoden der Protest-, Medien- und Umfrageforschung. Das MOTRA-Team an der UHH ist dabei für repräsentative Befragungen zuständig. Damit verfolgen wir das Ziel, extremistische Einstellungen in der Bevölkerung in Deutschland zu erfassen und zu erklären.
In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant?
In den letzten Jahren zeigten sich in Deutschland Entwicklungen der Polarisierung und die Zunahme gesellschaftlicher Konflikte. Zudem wurde in Politik und Gesellschaft vermehrt über Risiken des Rechtsextremismus und des islamistischen Terrorismus („Islamismus“) diskutiert. Das Ziel des Verbundes MOTRA ist es deshalb, über zunächst fünf Jahre ein systematisches und ganzheitliches Monitoring des Radikalisierungsgeschehens in Deutschland zu leisten. Darüber hinaus bietet MOTRA eine zentrale Plattform als Anlaufstelle für Wissenschaft, Behörden, Zivilgesellschaft und Politik. So möchten wir den Austausch von Wissen zur Früherkennung und Prävention von Extremismen in Deutschland erweitern und vertiefen.
Was ist der spezifische Fokus des Teams der UHH in diesem Gesamtprojekt? Wie werden die Forschungsziele umgesetzt?
Als Teil von MOTRA führt das Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft insgesamt drei aufeinander abgestimmte Befragungen durch. Diese werden seit 2021 regelmäßig wiederholt und sind repräsentativ für die jeweilige Zielgruppe in der Bevölkerung Deutschlands. Durch diese Studien können die Verbreitung extremistischer Einstellungen und Geschehnisse in der deutschen Bevölkerung erfasst und Trends identifiziert werden. Darüber hinaus werden in den Befragungen auch persönliche und soziale Umstände sowie Kontextbedingungen erfasst, die zur Entwicklung derartiger extremismusaffiner und intoleranter Einstellungen beitragen können. Dies ermöglicht es, Erkenntnisse dazu zu gewinnen, in welchen Teilgruppen und Regionen sowie aufgrund welcher Einflüsse Radikalisierungsprozesse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit stattfinden. Das so gewonnene Wissen hilft dabei, Risiko- und Schutzfaktoren zu identifizieren und auf dieser Grundlage Präventionsmaßnahmen gezielter auszurichten und wirksamer zu gestalten.
Wie werden die Befragungen durchgeführt?
Bei den Befragungen handelt es sich um die Studien (1) „Menschen in Deutschland“ (MiD), (2) „Junge Menschen in Deutschland“ (JuMiD) und (3) „Menschen in Deutschland: International“ (MiDInt).
Die Befragung „Menschen in Deutschland“ (MiD) umfasst jährlich etwa 4.000 Befragte, die repräsentativ für die Wohnbevölkerung im Alter von 18 Jahren an aufwärts sind. Diese Befragung wird seit 2021 jährlich wiederholt. Sie wird in einem Methodenmix zum Teil als postalisch-schriftliche und zum Teil als onlinebasierte standardisierte Befragung durchgeführt.
Die zweite Studie „Junge Menschen in Deutschland“ (JuMiD) richtet mit ihren Fragen ein spezielles Augenmerk auf die Lebenslagen und Interessen junger Menschen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren. Die Befragung dieser jüngeren Personengruppe erfolgt ausschließlich online und findet alle zwei Jahre statt. Die hier untersuchten Stichproben umfassen etwa 3.000 Personen, die repräsentativ für die Wohnbevölkerung dieser Altersgruppe in Deutschland sind.
Die dritte Studie „Menschen in Deutschland: International“ (MiDInt) ist ein Kooperationsprojekt mit dem German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. MiDInt setzt einen besonderen Schwerpunkt auf internationale Ereignisse, politische Entscheidungen und Krisen sowie deren Auswirkungen auf politische und gesellschaftliche Einstellungen in Deutschland. MiDInt wird alle zwei bis drei Monate als kurze Online-Befragung durchgeführt, wodurch neu auftauchende Probleme und Ereignisse zeitnah thematisiert werden können. Auch können so aktuelle Einstellungen und Haltungen, aber auch Sorgen und Erwartungen in der Bevölkerung erfasst werden. Mit jeder MiDInt-Befragung werden etwa 2.500 Personen erreicht. Auch hier sind die ermittelten Ergebnisse annähernd repräsentativ für die in Deutschland lebende erwachsene Bevölkerung.
Welche Kernfragen werden in den Befragungen behandelt? Welche Befunde aus MOTRA gibt es bisher?
Da es ein Kernziel von MOTRA ist, Aussagen über die Verbreitung von Extremismus zu treffen, beinhalten unsere Fragebögen spezifische Fragen zu politischen Einstellungen. Dabei geht es z.B. um die Akzeptanz der Demokratie und ihrer verfassungsrechtlichen Kernelemente. Damit werden sog. „phänomenübergreifende extremistische Einstellungen“ gemessen, also Einstellungen, die Grundprinzipien des demokratischen Staates ablehnen. Darüber hinaus erfassen wir spezifisch rechtsextremistische Einstellungen sowie speziell in der Gruppe der Muslim*innen auch islamismusaffine Einstellungen. Die Akzeptanz politisch motivierter Gewalt spielt in unseren Befragungen darüber hinaus ebenfalls eine wichtige Rolle.
Mit diesem Fragenset können sowohl die Verbreitung und ihre Entwicklung im Zeitverlauf als auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Formen des Extremismus in den Blick genommen und analysiert werden.
Ein weiteres wichtiges Anliegen ist es, Einfluss- und Risikofaktoren für derartige Einstellungen zu untersuchen. Dafür erfassen wir in unseren Studien eine große Bandbreite an persönlichen Haltungen und sozialen Umständen, darunter Persönlichkeitsfaktoren wie etwa die Tendenz zum „Schwarz-Weiß-Denken“ oder die Affinität zu einem Verschwörungsdenken. Daneben spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle, in diesem Zusammenhang auch persönliche Diskriminierungserfahrungen oder Zukunftsängste, z.B. in Bezug auf den Klimawandel, Migration oder Wirtschaftskrisen. Das Themenspektrum, das wir hier in unseren Studien abbilden, ist insoweit recht vielfältig. Die Inhalte der Befragungen werden zudem jährlich in Teilen neu an aktuelle gesellschaftliche Situationen angepasst, was eine umfangreiche Untersuchung jeweils potenziell relevanter Faktoren ermöglicht.
Unsere Ergebnisse veröffentlichen wir regelmäßig im Kurzformat auf unseren Studienwebseiten: https://www.mid.uni-hamburg.de/willkommen.html.
Welche zukünftigen Entwicklungen wären wünschenswert?
MOTRA wird seit Ende 2019 als ein Exzellenzcluster durch das BMBF gefördert, zunächst für eine Laufzeit von fünf Jahren (bis 11/2024). Schon bei der Entscheidung über die Förderung im Jahr 2019 war damit die Perspektive verbunden, im Falle einer erfolgreichen Umsetzung dieses Projekt als Forschungsverbund für weitere fünf Jahre fortzusetzen.
In dem Feld, das hier bearbeitet wird, ist es sehr wichtig, nicht nur kurzfristige Trends abzubilden, sondern langfristige Entwicklungen zu erforschen. Nur über Kontinuität und die kontinuierliche Ausweitung und Aktualisierung von Expertise kann schrittweise eine Entwicklung zu immer zielgenaueren Prognosen und Einschätzungen mit Blick auf angemessene Reaktionsmöglichkeiten zustande kommen. Gerade in Zeiten sich schnell wandelnder gesellschaftlicher Bedingungen und unterschiedlicher Krisen in den letzten Jahren – wie der COVID-Pandemie, dem anhaltenden Krieg in der Ukraine oder den derzeitigen Entwicklungen im Nahen Osten, ferner vor dem Hintergrund von Klimawandel und erwartbaren umfänglichen Migrationsbewegungen – ist es zentral, auch längerfristige nationale wie internationale Einflüsse solcher Geschehnisse auf politische Einstellungen im Auge zu behalten.
Insoweit ist die weitere Verlängerung des Gesamtprojektes MOTRA eine Perspektive, die wir gemeinsam mit unseren Partnern im Forschungsverbund mit Nachdruck verfolgen. Speziell von Hamburger Seite sehen wird dabei die Notwendigkeit, die internationale Ausrichtung dieser Forschung weiter auszubauen – ohne den nationale Bezug zu Politik und Praxis dabei zu vernachlässigen. In dieser Hinsicht haben wir in Hamburg das Glück, mit dem German Institute of Global and Area Studies einen starken Partner direkt vor Ort zu haben, mit dem wir aktuell bereits eng und erfolgreich zusammenarbeiten. Dies soll künftig noch weiter ausgebaut werden.
Projektpartner
MOTRA ist ein Forschungsverbund mit neun Verbundpartnern, bestehend aus Universitäten, Bundesbehörden und außeruniversitären Forschungsinstituten in ganz Deutschland.
Weitere Informationen zu den Teilprojekten des Forschungsverbunds finden Sie hier:
Bundeskriminalamt (BKA), Wiesbaden (Projektkoordinator)
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin
Kriminologische Zentralstelle e.V. (KrimZ), Wiesbaden
German Institute for Global and Area Studies (GIGA)
Hochschulen Fresenius gemeinnützige Trägergesellschaft mbH
Informationen zum MOTRA-Gesamtprojekt finden Sie hier:
Weitere Informationen zum MOTRA-Projekt an der UHH sind auf der Webseite des Lehrstuhls für Kriminologie zu finden:
https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/professuren/kriminologie/motra.html
Jedes Jahr wird der MOTRA-Monitor veröffentlicht, in dem aktuelle Befunde aller Teilprojekte des MOTRA-Verbundes vorgestellt werden. Der gerade neu veröffentlichte MOTRA-Monitor 2022 kann hier kostenfrei heruntergeladen werden: