Dieser Artikel erschien zuerst am 27. August 2025 im Newsroom der Universität Hamburg.
Historisch stabile Werte und NormenEs war einmal … ein Projekt zum Zusammenhang zwischen Märchen und Wirtschaftswachstum
27. August 2025
In Sagen und Märchen werden seit Jahrhunderten Werte und Normen weitergegeben. Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Stefan Voigt von der Fakultät für Rechtswissenschaft hat mithilfe künstlicher Intelligenz untersucht, ob sie damit heute noch Einfluss auf das Wachstum von Staaten haben.
Märchen und Recht bzw. Wirtschaft scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben. Wie sind Sie auf dieses Forschungsthema gekommen?
Die Frage ist: Wie kommt man an die langfristig relevanten Normen und Werte einer Gesellschaft, die für das Wachstum einer Volkswirtschaft ausschlaggebend sind? Märchen wurden über Jahrhunderte fast ausschließlich mündlich weitergegeben und nur die, die erfolgreich waren, liegen heute schriftlich vor. Erfolg heißt, dass sie die geltenden Überzeugungen widergespiegelt haben und genutzt wurden, um sie Kindern zu vermitteln.
Die Idee, Märchen daraufhin zu erforschen, hatte ich schon vor mehr 30 Jahren, als es um die Wachstumsaussichten der osteuropäischen Staaten nach 1990 ging. Damals war es allerdings unmöglich, Tausende von Märchen zu lesen und vergleichbar zu codieren. Erst Large Language Models wie ChatGPT eröffnen diese Möglichkeit.

Prof. Dr. Stefan Voigt. Foto: UHH
Die Basis Ihrer Forschung waren 27.000 Sagen und Märchen. Welche Kriterien mussten die Texte erfüllen und woher haben Sie diese bekommen?
Wir wollten in dieser Studie Werte und Normen erfassen, die über einen langen Zeitraum etabliert sind. Daher haben wir Märchen zusammengestellt, die bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Schriftform festgehalten wurden. Die Aufzeichnungen stammen sowohl von Volkskundlern wie den Gebrüdern Grimm als auch von Kolonialbeamten oder Missionaren, die Märchen in den Kolonien aufgezeichnet haben. Wir haben die verschiedenen Quellen zusammengetragen und – sofern sie es noch nicht waren – digitalisiert und ins Englische übersetzt.
Sie haben die Texte auf sieben Normen- und Wertegruppen untersucht: Kooperation, Selbstlosigkeit, Arbeitsmoral, Unternehmertum, Toleranz gegenüber anderslautenden Meinungen, Ablehnung von Diskriminierung und das Infragestellen von Autorität. Können Sie beispielhaft erklären, wie Sie die Märchen auf diese Kategorien hin analysiert haben?
Unsere Idee ist, dass sich diese einzelnen Faktoren positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken. Jeder Faktor wurde durch sogenannte Variablen erfasst, also Eigenschaften, die für diese Norm stehen. Die Arbeitsethik beispielweise knüpft stark an Max Webers protestantische Arbeitsmoral an, daher haben wir die Märchen auf harte Arbeit, Aufmerksamkeit fürs Detail, Ehrlichkeit, Geduld, das Erfüllen von Versprechen und Pünktlichkeit untersucht.
Uns ging es aber nicht darum, ob die konkreten Stichworte genannt wurden, sondern wir haben zu jeder Variablen einen Prompt geschrieben und ChatGPT hatte vier Optionen, um das Märchen zu bewerten. Am oben genannten Beispiel wäre das: Ehrlichkeit wird ermutigt, Ehrlichkeit wird nicht ermutigt, Ehrlichkeit kommt nicht vor oder ChatGPT ist sich nicht sicher.
Insgesamt hatten wir 77 Variablen und entsprechend viele Prompts, die auf jedes Märchen angewendet wurden. 36 davon sind in die sieben Oberkategorien und in unsere aktuelle Auswertung eingeflossen. Wir wissen also für alle 27.000 Märchen, ob Ehrlichkeit in ihnen eine Rolle spielt – und wenn ja, ob dazu ermutigt wird oder nicht.
Wie haben Sie die Daten weiter genutzt?
Natürlich werden nicht in jedem Märchen alle Aspekte behandelt. Kooperation ist zum Beispiel häufiger ein Thema als die Ablehnung von Diskriminierung. Aber aus den Datenpunkten kann man einen Durchschnitt für jede Variable erstellen. Wenn man die Märchen dann Ländern zuordnet, kann man sehen, ob ein Wert wie Ehrlichkeit dort im Vergleich zum Durchschnitt eher gefördert wird oder negativ konnotiert ist.
Im Fokus Ihrer Arbeit stand die Frage, ob die damalige Darstellung der Werte heute noch mit dem unterschiedlichen Wirtschaftswachstum von Ländern korreliert. Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben unsere Werte zum Teil einer statistischen Berechnung des Wirtschaftswachstums gemacht. In diese Modelle fließen klassischerweise Faktoren wie Arbeit, Investitionen und der Bildungsgrad ein. Darüber hinaus werden geografische Parameter der Länder berücksichtigt. Diese Zahlen liegen für unsere untersuchten 140 Länder vor.
Für jede der sieben Oberkategorien haben wir einen Wert errechnet, der angibt, wie stark zum Beispiel die Kooperationsbereitschaft in den Märchen dieses Landes vom Durchschnitt aller Märchen abweicht. Positive Werte zeigen dann eine überdurchschnitte Kooperationsbereitschaft an, negative Werte eine unterdurchschnittliche.
Wenn man diese verschiedenen Variablen in ein ökonometrisches Modell einfügt, kann man errechnen, ob die einzelnen Variablen signifikant zur Erklärung der unterschiedlichen Wachstumsraten beitragen, und wenn ja wieviel.
Was ist das Ergebnis?
Wir haben uns die Zeitperiode zwischen 1990 und 2019 angeschaut, da uns hier für sehr viele Länder umfassende Daten vorliegen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Unterschiede in der Ausprägung der sieben untersuchten Normen- und Wertekategorien signifikant mit den verschiedenen Wachstumsraten korrelieren. Die Länder, in denen am Ende des 19. Jahrhunderts in Märchen die Kooperationsbereitschaft gestärkt wurde, wachsen bis heute stärker. Wo dieser Wert nicht positiv konnotiert war, ist das Wachstum heute geringer.
Sie stellen den Datensatz als „Historical Values Survey“ (HistoVaS) weiterer Forschung zur Verfügung. Welche Fragen könnten mit seiner Hilfe noch beantwortet werden?
Es ist der erste Datensatz, der historisch weit verbreitete Werte und Normen enthält – und zwar auf der Basis von 27.000 Märchen aus 172 aktuellen Ländern, in denen 99 Prozent aller Menschen leben. Es ist also ein globaler Datensatz, der für verschiedene Fachrichtungen interessant sein könnte. Man muss dabei nicht notwendigerweise auf der nationalstaatlichen Ebene bleiben, sondern könnte sich die verschiedenen Regionen genauer anschauen.
Im nächsten Schritt wäre es zum Beispiel interessant zu schauen, inwieweit sich die untersuchten historischen Werte heute verändert haben. Dafür könnte man unsere Daten mit der „World Values Survey“ vergleichen – einer Umfrage, die seit 1981 regelmäßig durchgeführt wird und das Werte- und Normempfinden weltweit untersucht.
Zum Projekt
Stefan Voigt ist Professor für ökonomische Analyse des Rechts und seit Oktober 2009 Direktor am Institut für Recht & Ökonomik an der Fakultät für Rechtswissenschaft. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit ökonomischen Konsequenzen alternativer Verfassungsregeln. Das Forschungsprojekt hat Voigt gemeinsam mit Mahdi Khesali, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Recht & Ökonomik, sowie Nadia von Jacobi von der Universität Trient (Italien) durchgeführt. Das Diskussionspapier ist online preprint verfügbar.