Forschungsprojekt des Monats
Die rechtswissenschaftliche Forschung nimmt ihre Fragestellungen häufig direkt aus der Praxis, die Forschungsergebnisse werden in nahezu allen Bereichen von Politik und Gesellschaft als Expertise herangezogen. Genau deshalb sind die Forschungsvorhaben unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so vielfältig, aktuell und einzigartig!
Auf dieser Seite möchten wir Ihnen einen Einblick in die einzelnen Forschungstätigkeiten unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschaffen: Monat für Monat stellen wir hier ein spannendes Forschungsprojekt vor.
2023
MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung)
MOTRA |
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Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Peter Wetzels zu seinem aktuellen Forschungsprojekt. Der Forschungsverbund MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung) ist ein Forschungscluster, das sich mit der Früherkennung, Prävention und Bekämpfung von Extremismus befasst. Das Projekt wird seit Ende 2019 durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das Bundesministerium des Inneren und für Heimat gefördert. Neben dem Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft der UHH sind weitere acht Projektpartner aus fünf verschiedenen Orten in Deutschland an dem Projekt beteiligt. Alle Projektpartner widmen sich in einem interdisziplinären Zugang der Erfassung und Erforschung von Radikalisierung und politischen Extremismen in Deutschland, u.a. anhand von Methoden der Protest-, Medien- und Umfrageforschung. Das MOTRA-Team an der UHH ist dabei für repräsentative Befragungen zuständig. Damit verfolgen wir das Ziel, extremistische Einstellungen in der Bevölkerung in Deutschland zu erfassen und zu erklären. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant?In den letzten Jahren zeigten sich in Deutschland Entwicklungen der Polarisierung und die Zunahme gesellschaftlicher Konflikte. Zudem wurde in Politik und Gesellschaft vermehrt über Risiken des Rechtsextremismus und des islamistischen Terrorismus („Islamismus“) diskutiert. Das Ziel des Verbundes MOTRA ist es deshalb, über zunächst fünf Jahre ein systematisches und ganzheitliches Monitoring des Radikalisierungsgeschehens in Deutschland zu leisten. Darüber hinaus bietet MOTRA eine zentrale Plattform als Anlaufstelle für Wissenschaft, Behörden, Zivilgesellschaft und Politik. So möchten wir den Austausch von Wissen zur Früherkennung und Prävention von Extremismen in Deutschland erweitern und vertiefen. Was ist der spezifische Fokus des Teams der UHH in diesem Gesamtprojekt? Wie werden die Forschungsziele umgesetzt?Als Teil von MOTRA führt das Institut für Kriminologie an der Fakultät für Rechtswissenschaft insgesamt drei aufeinander abgestimmte Befragungen durch. Diese werden seit 2021 regelmäßig wiederholt und sind repräsentativ für die jeweilige Zielgruppe in der Bevölkerung Deutschlands. Durch diese Studien können die Verbreitung extremistischer Einstellungen und Geschehnisse in der deutschen Bevölkerung erfasst und Trends identifiziert werden. Darüber hinaus werden in den Befragungen auch persönliche und soziale Umstände sowie Kontextbedingungen erfasst, die zur Entwicklung derartiger extremismusaffiner und intoleranter Einstellungen beitragen können. Dies ermöglicht es, Erkenntnisse dazu zu gewinnen, in welchen Teilgruppen und Regionen sowie aufgrund welcher Einflüsse Radikalisierungsprozesse mit erhöhter Wahrscheinlichkeit stattfinden. Das so gewonnene Wissen hilft dabei, Risiko- und Schutzfaktoren zu identifizieren und auf dieser Grundlage Präventionsmaßnahmen gezielter auszurichten und wirksamer zu gestalten. Wie werden die Befragungen durchgeführt?Bei den Befragungen handelt es sich um die Studien (1) „Menschen in Deutschland“ (MiD), (2) „Junge Menschen in Deutschland“ (JuMiD) und (3) „Menschen in Deutschland: International“ (MiDInt). Die Befragung „Menschen in Deutschland“ (MiD) umfasst jährlich etwa 4.000 Befragte, die repräsentativ für die Wohnbevölkerung im Alter von 18 Jahren an aufwärts sind. Diese Befragung wird seit 2021 jährlich wiederholt. Sie wird in einem Methodenmix zum Teil als postalisch-schriftliche und zum Teil als onlinebasierte standardisierte Befragung durchgeführt. Die zweite Studie „Junge Menschen in Deutschland“ (JuMiD) richtet mit ihren Fragen ein spezielles Augenmerk auf die Lebenslagen und Interessen junger Menschen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren. Die Befragung dieser jüngeren Personengruppe erfolgt ausschließlich online und findet alle zwei Jahre statt. Die hier untersuchten Stichproben umfassen etwa 3.000 Personen, die repräsentativ für die Wohnbevölkerung dieser Altersgruppe in Deutschland sind. Die dritte Studie „Menschen in Deutschland: International“ (MiDInt) ist ein Kooperationsprojekt mit dem German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. MiDInt setzt einen besonderen Schwerpunkt auf internationale Ereignisse, politische Entscheidungen und Krisen sowie deren Auswirkungen auf politische und gesellschaftliche Einstellungen in Deutschland. MiDInt wird alle zwei bis drei Monate als kurze Online-Befragung durchgeführt, wodurch neu auftauchende Probleme und Ereignisse zeitnah thematisiert werden können. Auch können so aktuelle Einstellungen und Haltungen, aber auch Sorgen und Erwartungen in der Bevölkerung erfasst werden. Mit jeder MiDInt-Befragung werden etwa 2.500 Personen erreicht. Auch hier sind die ermittelten Ergebnisse annähernd repräsentativ für die in Deutschland lebende erwachsene Bevölkerung. Welche Kernfragen werden in den Befragungen behandelt? Welche Befunde aus MOTRA gibt es bisher?Da es ein Kernziel von MOTRA ist, Aussagen über die Verbreitung von Extremismus zu treffen, beinhalten unsere Fragebögen spezifische Fragen zu politischen Einstellungen. Dabei geht es z.B. um die Akzeptanz der Demokratie und ihrer verfassungsrechtlichen Kernelemente. Damit werden sog. „phänomenübergreifende extremistische Einstellungen“ gemessen, also Einstellungen, die Grundprinzipien des demokratischen Staates ablehnen. Darüber hinaus erfassen wir spezifisch rechtsextremistische Einstellungen sowie speziell in der Gruppe der Muslim*innen auch islamismusaffine Einstellungen. Die Akzeptanz politisch motivierter Gewalt spielt in unseren Befragungen darüber hinaus ebenfalls eine wichtige Rolle. Mit diesem Fragenset können sowohl die Verbreitung und ihre Entwicklung im Zeitverlauf als auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Formen des Extremismus in den Blick genommen und analysiert werden. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist es, Einfluss- und Risikofaktoren für derartige Einstellungen zu untersuchen. Dafür erfassen wir in unseren Studien eine große Bandbreite an persönlichen Haltungen und sozialen Umständen, darunter Persönlichkeitsfaktoren wie etwa die Tendenz zum „Schwarz-Weiß-Denken“ oder die Affinität zu einem Verschwörungsdenken. Daneben spielen soziale Faktoren eine wichtige Rolle, in diesem Zusammenhang auch persönliche Diskriminierungserfahrungen oder Zukunftsängste, z.B. in Bezug auf den Klimawandel, Migration oder Wirtschaftskrisen. Das Themenspektrum, das wir hier in unseren Studien abbilden, ist insoweit recht vielfältig. Die Inhalte der Befragungen werden zudem jährlich in Teilen neu an aktuelle gesellschaftliche Situationen angepasst, was eine umfangreiche Untersuchung jeweils potenziell relevanter Faktoren ermöglicht. Unsere Ergebnisse veröffentlichen wir regelmäßig im Kurzformat auf unseren Studienwebseiten: https://www.mid.uni-hamburg.de/willkommen.html. Welche zukünftigen Entwicklungen wären wünschenswert?MOTRA wird seit Ende 2019 als ein Exzellenzcluster durch das BMBF gefördert, zunächst für eine Laufzeit von fünf Jahren (bis 11/2024). Schon bei der Entscheidung über die Förderung im Jahr 2019 war damit die Perspektive verbunden, im Falle einer erfolgreichen Umsetzung dieses Projekt als Forschungsverbund für weitere fünf Jahre fortzusetzen. In dem Feld, das hier bearbeitet wird, ist es sehr wichtig, nicht nur kurzfristige Trends abzubilden, sondern langfristige Entwicklungen zu erforschen. Nur über Kontinuität und die kontinuierliche Ausweitung und Aktualisierung von Expertise kann schrittweise eine Entwicklung zu immer zielgenaueren Prognosen und Einschätzungen mit Blick auf angemessene Reaktionsmöglichkeiten zustande kommen. Gerade in Zeiten sich schnell wandelnder gesellschaftlicher Bedingungen und unterschiedlicher Krisen in den letzten Jahren – wie der COVID-Pandemie, dem anhaltenden Krieg in der Ukraine oder den derzeitigen Entwicklungen im Nahen Osten, ferner vor dem Hintergrund von Klimawandel und erwartbaren umfänglichen Migrationsbewegungen – ist es zentral, auch längerfristige nationale wie internationale Einflüsse solcher Geschehnisse auf politische Einstellungen im Auge zu behalten. Insoweit ist die weitere Verlängerung des Gesamtprojektes MOTRA eine Perspektive, die wir gemeinsam mit unseren Partnern im Forschungsverbund mit Nachdruck verfolgen. Speziell von Hamburger Seite sehen wird dabei die Notwendigkeit, die internationale Ausrichtung dieser Forschung weiter auszubauen – ohne den nationale Bezug zu Politik und Praxis dabei zu vernachlässigen. In dieser Hinsicht haben wir in Hamburg das Glück, mit dem German Institute of Global and Area Studies einen starken Partner direkt vor Ort zu haben, mit dem wir aktuell bereits eng und erfolgreich zusammenarbeiten. Dies soll künftig noch weiter ausgebaut werden. Projektpartner MOTRA ist ein Forschungsverbund mit neun Verbundpartnern, bestehend aus Universitäten, Bundesbehörden und außeruniversitären Forschungsinstituten in ganz Deutschland. Weitere Informationen zu den Teilprojekten des Forschungsverbunds finden Sie hier: Bundeskriminalamt (BKA), Wiesbaden (Projektkoordinator) Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin Kriminologische Zentralstelle e.V. (KrimZ), Wiesbaden German Institute for Global and Area Studies (GIGA) Hochschulen Fresenius gemeinnützige Trägergesellschaft mbH Informationen zum MOTRA-Gesamtprojekt finden Sie hier: Weitere Informationen zum MOTRA-Projekt an der UHH sind auf der Webseite des Lehrstuhls für Kriminologie zu finden: https://www.jura.uni-hamburg.de/die-fakultaet/professuren/kriminologie/motra.html Jedes Jahr wird der MOTRA-Monitor veröffentlicht, in dem aktuelle Befunde aller Teilprojekte des MOTRA-Verbundes vorgestellt werden. Der gerade neu veröffentlichte MOTRA-Monitor 2022 kann hier kostenfrei heruntergeladen werden: |
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Climate Change as Unjust Enrichment
"Climate Change as Unjust Enrichment" |
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Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Roee Sarel zu seinem aktuellen Forschungsprojekt. This project concerns the most pressing challenge that humanity is facing – climate change. While the scientific evidence strongly suggests that climate change will lead to immense harms, such as floods, fires, and extinction of certain wildlife, the endeavors to mitigate it have been rather unsuccessful. Because environmental regulations (national and international) are impeded by incentive problems and regulatory capture, some have turned to the courts for remedy, seeking damages from those who contribute most to climate change. Typically, these “climate litigation” lawsuits are based on tort law, which requires proof that (i) the defendant breached a duty of care, (i) the plaintiff incurred harm, and (iii) there is a causal link (but-if) between the harm and the breach. Alas, proving these elements is difficult in the context of climate change, because the harms mostly manifest in the future and are a result of a complex global warming process, to which many contribute. We set out to see whether the unjust enrichment doctrine would serve as a more suitable legal venue for climate litigation. The advantage of the unjust enrichment doctrine is its applicability not only in cases where a clear wrong is committed, but also when a wrong cannot be proven but the outcome is nonetheless unjust. We show that unjust enrichment would likely be an effective tool, enabling plaintiffs to target the unjust profits of polluters who benefitted at their expense. These profits are easier to quantify and tend to manifest much quicker than the harm, making them viable targets. Thus, our analysis suggests that the unjust enrichment doctrine is an appropriate tool here, improving both incentives and justice. In what context did the idea for your research project come about? What is particularly interesting about the topic? Our project is engrained within the general context of sustainability, which is one of the flagship topics studied at the University of Hamburg. To improve sustainability, mitigating climate change is perhaps the most important step. The idea of targeting unjust climate profits has been proposed by some scholars before in general terms, but the doctrinal steps needed to translate the intuition into an actionable legal framework were, hitherto, missing. We developed this idea by differentiating between cases where a wrong occurred and cases where no wrong can be identified. We argue that unjust enrichment should apply more broadly when a wrong occurred, such as when defendants pollute unreasonably (gross-negligence) or mislead regulators, but subjected to certain filters if no wrong is identifiable. This would ensure that lawsuits would target those who truly make a substantial contribution to climate change while accumulating large profits (e.g., some oil companies) rather than just any person who makes minor contributions in their daily life (e.g., a single farmer). What is the social relevance of the research project? What can research achieve in this context? We believe that this project has high social relevance. Not only does it open up a new path for the victims of climate change to pursue justice ex-post in their cases, but it also holds promise of improving deterrence of polluters ex-ante. We show how polluters who anticipate being sued based on unjust enrichment would be incentivized to abstain from major contributions to climate change, hopefully leading to a mitigation of the climate crisis. We hope that our project would have at least two major impacts. First, in accordance with our analysis, we hope that courts would be open to applying the unjust enrichment doctrine in climate litigation, taking into consideration that effects we identify in the article. Second, we hope to inspire further work on the use of unjust enrichment in the context of sustainability.
The HLS Forum blog can be found here: https://corpgov.law.harvard.edu/2023/08/01/climate-change-as-unjust-enrichment/ |
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Climate Change as Unjust Enrichment
"Climate Change as Unjust Enrichment" |
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Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Roee Sarel zu seinem aktuellen Forschungsprojekt. This project concerns the most pressing challenge that humanity is facing – climate change. While the scientific evidence strongly suggests that climate change will lead to immense harms, such as floods, fires, and extinction of certain wildlife, the endeavors to mitigate it have been rather unsuccessful. Because environmental regulations (national and international) are impeded by incentive problems and regulatory capture, some have turned to the courts for remedy, seeking damages from those who contribute most to climate change. Typically, these “climate litigation” lawsuits are based on tort law, which requires proof that (i) the defendant breached a duty of care, (i) the plaintiff incurred harm, and (iii) there is a causal link (but-if) between the harm and the breach. Alas, proving these elements is difficult in the context of climate change, because the harms mostly manifest in the future and are a result of a complex global warming process, to which many contribute. We set out to see whether the unjust enrichment doctrine would serve as a more suitable legal venue for climate litigation. The advantage of the unjust enrichment doctrine is its applicability not only in cases where a clear wrong is committed, but also when a wrong cannot be proven but the outcome is nonetheless unjust. We show that unjust enrichment would likely be an effective tool, enabling plaintiffs to target the unjust profits of polluters who benefitted at their expense. These profits are easier to quantify and tend to manifest much quicker than the harm, making them viable targets. Thus, our analysis suggests that the unjust enrichment doctrine is an appropriate tool here, improving both incentives and justice. In what context did the idea for your research project come about? What is particularly interesting about the topic? Our project is engrained within the general context of sustainability, which is one of the flagship topics studied at the University of Hamburg. To improve sustainability, mitigating climate change is perhaps the most important step. The idea of targeting unjust climate profits has been proposed by some scholars before in general terms, but the doctrinal steps needed to translate the intuition into an actionable legal framework were, hitherto, missing. We developed this idea by differentiating between cases where a wrong occurred and cases where no wrong can be identified. We argue that unjust enrichment should apply more broadly when a wrong occurred, such as when defendants pollute unreasonably (gross-negligence) or mislead regulators, but subjected to certain filters if no wrong is identifiable. This would ensure that lawsuits would target those who truly make a substantial contribution to climate change while accumulating large profits (e.g., some oil companies) rather than just any person who makes minor contributions in their daily life (e.g., a single farmer). What is the social relevance of the research project? What can research achieve in this context? We believe that this project has high social relevance. Not only does it open up a new path for the victims of climate change to pursue justice ex-post in their cases, but it also holds promise of improving deterrence of polluters ex-ante. We show how polluters who anticipate being sued based on unjust enrichment would be incentivized to abstain from major contributions to climate change, hopefully leading to a mitigation of the climate crisis. We hope that our project would have at least two major impacts. First, in accordance with our analysis, we hope that courts would be open to applying the unjust enrichment doctrine in climate litigation, taking into consideration that effects we identify in the article. Second, we hope to inspire further work on the use of unjust enrichment in the context of sustainability.
The HLS Forum blog can be found here: https://corpgov.law.harvard.edu/2023/08/01/climate-change-as-unjust-enrichment/ |
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"HYBRID MINDS", Dr. Jan Christoph Bublitz
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Ein Interview mit Dr. Jan Christoph Bublitz zu seinem aktuellen Forschungsprojekt. Das Projekt HYBRID MINDS untersucht ethische und rechtliche Fragen durch die Technologisierung des menschlichen Geists durch Neurotechnologien, welche die menschliche Psyche mit Künstlicher Intelligenz (KI) verbinden. Vereinfacht gesprochen geht es um Gehirnchips und ähnliche Technologien, die Gehirnsignale messen, verarbeiten, und ggf. an andere Geräte weiterleiten, oder die das Gehirn stimulieren. Ein medial bekanntes Beispiel sind die Entwicklungen der Firma Neuralink von Elon Musk. Doch in der medizinischen Forschung gibt es bereits weiter fortgeschrittenen Geräte. Sie unterstützen oder übernehmen psychische Funktionen, die etwa aufgrund von Krankheiten eingeschränkt sind. Solche Technologien erschaffen neue Interaktionsformen von Mensch und Maschine, bzw. zwischen dem Gehirn, dem menschlichen Geist, der Hardware der Neuroprothese und der sie steuernden Software, zu der selbstlernende Algorithmen oder andere KI Elemente zählen können. Damit werden KI Technologien direkt in die menschliche Psyche integriert. Das Produkt des Zusammenwirkens dieser verschiedenen Komponenten nennen wir einen Hybrid Mind. Ziele des interdisziplinären Projekts liegen in Konzeptualisierung von Hybrid Minds sowie einem besseren Verständnis der Interaktionsformen zwischen Nutzern und diesen selbstlernenden Systemen, vor allem den Erlebnissen von Nutzern solcher Geräte: wie ist es, wie fühlt es sich an, wenn die eigene Psyche jedenfalls teilweise durch KI-Technologien beeinflusst wird? Der an der Fakultät für Rechtswissenschaft angesiedelte Projektarm beschäftigt sich mit der Analyse ethischer und rechtlicher Fragen, die durch Hybrid Minds aufgeworfen werden. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Das Projekt behandelt aktuelle Grundlagenfragen im Bereich der Neuroethik, eines meiner Forschungsgebiete. Die untersuchten Technologien sind brandaktuelle Entwicklungen, viele von ihnen bestehen derzeit nur als experimentelle Prototypen. Unter welchen Bedingungen sie weiterentwickelt und eingesetzt werden, bedarf der Klärung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung betreibt federführend mit Institutionen anderer europäischer Länder eine auch international attraktive und sichtbare Förderlinie zur Untersuchung ethischer, rechtlicher und sozialer Fragen von Neurotechnologien, die das Projekt finanziert. Aus rechtlicher und rechtsethischer Sicht stellen sich mehrere spannende Fragen, etwa ob solche Geräte zum Teil des Körpers und der Person werden, wie es bei anderen Implantaten durchaus sein kann. Doch dann würde wohl auch die KI Teil des Körpers werden, was eine Reihe von Folgefragen etwa über die Verantwortungszuschreibung aufwirft. Vor allem aber sorgen Neurotechnologien im Allgemeinen derzeit für Diskussionen in internationalen Organisationen über einen angemessenen Schutz der Person auf menschenrechtlicher Ebene. Die OECD, UNESCO und andere Institutionen haben jüngst Berichte dazu veröffentlicht, derzeit wird das Thema vom UN-Menschenrechtsrat untersucht. Die Forschungsarbeiten meiner Projektpartner und mir werden dort rezipiert, was zugleich ein großes Privileg und eine Herausforderung ist. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Die Dynamik mit der technologische Fortschritte die Gesellschaft und das Leben Einzelner verändern, wird derzeit offensichtlich. Es bedarf antizipativer interdisziplinärer Forschung, die nah an den Entwicklungen ist und zugleich Raum zum Nachdenken über Grundsätzlicheres schafft. Unser Projekt behandelt einen recht speziellen Ausschnitt, an dem die Grenzziehung zwischen Mensch und Maschine verhandelt wird. Zudem geht es natürlich um die Entwicklung von Technologien, die das Leben vieler Menschen mit schweren Krankheiten und erheblichen Einschränkungen verbessern können. Die Geräte werden etwa für die Behandlung schwerer Depressionen entwickelt, die sich medikamentös nicht behandeln lassen, oder für Patienten, die nicht mehr sprechen oder sich bewegen können. Projektpartner/ Gibt es weitere Projektbeteiligte? Das Verbundprojekt besteht aus Partnern an der Charité Berlin (Prof. Surjo Soekadar, Klinische Neurotechnologie), der Technischen Universität München, der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (Prof. Marcello Ienca, Künstliche Intelligenz und Neurowissenschaft), und wird von der Rechtsfakultät der Universität Ottawa (Prof. Jennifer Chandler) koordiniert. Ggf. Verlinkungen zur Webseite des Projektes/Fachveröffentlichungen zum Projekt: Mehr über das Projekt und Veröffentlichungen erfahren Sie auf der Projektwebsite. |
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"Lobbyismus in der Justiz", Prof. Dr. Heribert Hirte
"Lobbyismus in der Justiz" |
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Ein Interview mit Prof. Dr. Heribert Hirte zu seinem aktuellen Forschungsprojekt. Ausufernder Lobbyismus ist nicht nur ein Problem der Politik, sondern – und vielleicht noch mehr, da es dort bislang zumeist verdeckt ist – aller Institutionen und Beteiligten, die politische Entscheidungen in ihrem Vorfeld prägen oder nachher zu beurteilen haben. Zum „Vorfeld“ gehört bei rechtspolitischen Entscheidungen vor allem die Rechtswissenschaft, die mit Aufsätzen, Tagungen, Büchern und Kommentaren Meinung macht – und insbesondere die „herrschende Meinung“ etabliert, die dann zunächst von der Politik oft unreflektiert übernommen wird. Die spätere Beurteilung obliegt der Justiz, die einerseits ebenfalls von genau dieser herrschenden Meinung beeinflusst werden kann, andererseits in der Lage ist, politische Entscheidungen nachträglich aufzuweichen oder zu verändern. Die bisherige Diskussion um Lobbyismus blendet diese Einflussmöglichkeiten im Vorfeld des und im Anschluss an den eigentlichen Rechtsetzungsprozess weitgehend aus. Deshalb müssten die Offenlegungsvorschriften, wie sie etwa im Lobbyregistergesetz vorgesehen sind, entsprechend auch auf Wissenschaft und Justiz übertragen werden. Entsprechende Vorschläge habe ich auf dem letzten Deutschen Juristentag im vergangenen Jahr zur Diskussion gestellt. Sie haben mit Berichterstattung in LTO und WELT erhebliche Aufmerksamkeit erfahren. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Wissenschaft, Politik und Justiz stehen nicht nebeneinander, sondern sind auf Engste miteinander verzahnt. Dies zu erkennen – und öffentlich zu machen, ist ein erster wichtiger Schritt, und zugleich ein Ziel der Arbeit. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Siehe unter Erläuterung zur vorherigen Frage. Projektpartner/ Gibt es weitere Projektbeteiligte? Teile der Ideen habe ich auch bei Transparency International Deutschland e.V. eingebracht, deren Vorstandsmitglied ich bin. Ggf. Verlinkungen zur Webseite des Projektes/Fachveröffentlichungen zum Projekt: In einem Beitrag in der „Festschrift für Heidel“ habe ich die wesentlichen Punkte herausgearbeitet. |
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"TreuMed: Wie können Daten von Patientinnen und Patienten geschützt und gleichzeitig für die medizinische Forschung genutzt werden?", Prof. Dr. Gabriele Margarte Buchholtz
"TreuMed: Wie können Daten von Patientinnen und Patienten geschützt und gleichzeitig für die medizinische Forschung genutzt werden?" |
Ein Interview mit Prof. Dr. Gabriele Margarete Buchholtz zu ihrem aktuellen Forschungsprojekt Wie können Daten von Patientinnen und Patienten geschützt und gleichzeitig für die medizinische Forschung genutzt werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „TreuMed“. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz entwickeln Forschende der Universität Hamburg ein sogenanntes Datentreuhandmodell, das Daten von Patientinnen und Patienten datenschutzkonform verarbeiten kann. Im Interview erklärt die Juraprofessorin Gabriele Buchholtz, wie das funktioniert und warum das so wichtig ist. Frau Buchholtz, warum sind insbesondere im medizinischen Bereich Daten so wichtig? Und wie funktioniert diese? Hoffen Sie, solche Verfahren steigern die Bereitschaft von Patientinnen und Patienten, ihre Daten preiszugeben? Sie testen das Modell in den Bereichen Epidemiologie, Genetik und Stoffwechselforschung. Wird es zukünftig in allen Bereichen der Medizin anwendbar sein? Ihr Forschungsprojekt liegt im Bereich der Medizintechnik, Sie sind jedoch Juniorprofessorin in der Rechtswissenschaft – wie kamen Sie zu dem Projekt? Fachveröffentlichungen zum Projekt: |
Das Projekt Im Rahmen eines vom BMBF geförderten Projekts entwickelt die Universität Hamburg gemeinsam mit der Universität Greifswald und der ePrivacy GmbH ein neuartiges Datentreuhandmodell zur Verarbeitung medizinischer Daten. Projektkoordinator ist Prof. Dr. Jan Baumbach aus der MIN-Fakultät der Universität Hamburg. Kern des Datentreuhandmodells ist ein Ampelsystem, welches drei unterschiedliche Privatsphäre-Level der Daten identifiziert und Schutzvorkehrungen verlangt. Ein dezentrales Datenmanagementsystem macht den tatsächlichen Austausch von Rohdaten zudem überflüssig. Dadurch soll Datenmissbrauch gesenkt werden. |
Forschen & Verstehen In den acht Fakultäten der Universität Hamburg forschen rund 6.200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Auch viele Studierende wenden oft bereits im Studium ihr neu erworbenes Wissen in der Praxis an. Die Reihe „Forschen & Verstehen“ gibt einen Einblick in die große Vielfalt der Forschungslandschaft und stellt einzelne Projekt genauer vor. Fragen und Anregungen können gerne an die Newsroom-Redaktion gesendet werden. |
Prof. Dr. Gabriele Margarte Buchholtz hat seit November 2020 die Juniorprofessur für das Recht der sozialen Sicherung in Digitalisierung oder in Migration (Stiftungsprofessur, finanziert durch FIS/BMAS) an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg inne. |
"Learning from Clinical Data. Ethical, Social and Legal Aspects (LinCDat)", Prof. Dr. Kai Cornelius
"Learning from Clinical Data. Ethical, Social and Legal Aspects (LinCDat)"Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Kai Cornelius zu seinem aktuellen ForschungsprojektMehrere nationale und internationale medizinische Forschungsprogramme, wie die deutsche Medizininformatik-Initiative oder das US-amerikanische CancerLinQ-Projekt, zielen auf die systematische Sammlung klinischer Daten (Daten aus der Patientenversorgung) für Sekundäranalysen in Forschungs- und anderen Lernaktivitäten ab. Bislang ist diese Sekundärnutzung jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Das Projekt "Learning from Clinical Data. Ethical, Social and Legal Aspects (LinCDat)" untersucht die Möglichkeit und den Nutzen eines Paradigmenwechsels in der Nutzung klinischer Daten. Im Rahmen des Projekts wurde kürzlich eine Stellungnahme zur sekundären Forschungsnutzung von Behandlungsdaten veröffentlicht, in welcher ein Umdenken beim Umgang mit Behandlungsdaten und eine gesetzliche Grundlage für die standardmäßige Datennutzung mit Widerspruchslösung gefordert wird. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Das Idee für das Projekt ist aus der Erkenntnis geboren worden, dass die in der Medizinischen Forschung tätigen Personen regelmäßig Scheu haben, den in der Behandlung der Patienten anfallenden Datenschatz zu heben, da die sekundäre Forschungsnutzung von Behandlungsdaten mit einer erheblichen Rechtsunsicherheit belastet ist. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Die Corona-Pandemie hat auf dramatische Weise gezeigt, wie wichtig es ist, zu wissen, was in den Krankenhäusern passiert und wie es den Patienten geht. Diese Informationen sind unentbehrlich – für die biomedizinische Forschung, für die Epidemiologie und damit auch für fundierte politische Entscheidungen in schwierigen gesellschaftlichen Situationen. Statt auf Daten aus deutschen Krankenhäusern konnten sich Wissenschaft und Politik bisher nur grob auf Daten aus anderen Ländern stützen. Die bei der Behandlung anfallenden Daten stellen auch über pandemische Ausnahmesituationen hinaus einen Schatz dar, den es zu heben gilt, beispielsweise zur Erforschung von Krebs und Herz-Kreislaufkrankheiten, seltenen Erkrankungen und vielen anderen Bereichen von medizinischer Relevanz – kurzum – zur Vergrößerung des biomedizinischen Wissens und damit letztlich zur Verbesserung der zukünftigen medizinischen Versorgung. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Hier ist insbesondere die Rechtssicherheit für Sekundärnutzung der Behandlungsdaten mit einer Präferenz für die Widerspruchslösung zu nennen. Diese muss – zur Wahrung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung – in eine Vertrauensarchitektur eingebettet sein, wobei auch die Idee der Datentreuhandschaft nutzbar gemacht werden kann. Dabei darf die Arbeit mit den Daten nicht auf die Kosten von Gesprächszeit und Behandlungsqualität gehen. Gibt es weitere Projektbeteiligte? Das Projektteam besteht aus folgenden Beteiligten: Ethical: Dr. phil. Christoph Schickhardt, Dr. phil. Martin Jungkunz Socio-Empirical: Dr. phil. Katja Mehlis, Anja Köngeter M.A. Legal: Prof. Dr. Kai Cornelius, LL.M., Markus Spitz, Adrian Thorogood B.A.& Sc., B.C.L./LL.B., LL.M. (Mercator Fellow) Fachveröffentlichungen zum Projekt: Die Ergebnisse des Forschungsprojekts sind auf der Webseite des Projekts veröffentlicht: https://www.nct-heidelberg.de/forschung/nct-core-services/nct-epoc/research/lincdat.html |
Prof. Dr. Kai Cornelius hat seit 2021 die Professur für Strafrecht mit Internationalem Strafrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg inne.
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2022
"Harmonisierung der Insolvenzanfechtungsrechte in der EU", Prof. Dr. Reinhard Bork
"Harmonisierung der Insolvenzanfechtungsrechte in der EU"Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Reinhard Bork zu seinem aktuellen ForschungsprojektGegenstand des Insolvenzanfechtungsrechts ist die Rückabwicklung von Rechtshandlungen, die vor der Insolvenzeröffnung stattgefunden haben und die Gläubiger benachteiligen. Entsprechende Regelungen gibt es in allen Mitgliedstaaten der EU, aber sie unterscheiden sich sehr stark in den Details. Das behindert den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr erheblich. Eine Harmonisierung dieser Regelungen auf EU-Ebene wird daher allgemein befürwortet. Das DFG-geförderte Projekt, welches Herr Prof. Dr. Reinhard Bork in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Michael Veder aus Nijmegen/NL erfolgreich durchführte, hat deshalb einen Harmonisierungsvorschlag entwickelt, dessen Umsetzung in eine EU-Richtlinie in Brüssel derzeit geprüft wird. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Während meines zweiten Forschungsaufenthaltes in Oxford habe ich ein Buch über die Prinzipien des Internationalen Insolvenzrechts geschrieben. Dabei kam mir die Idee, dass eine prinzipienorientierte Herangehensweise auch Harmonisierungen erleichtern könnte. Diese Idee wurde mit dem jetzigen Projekt getestet und hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Harmonisierungen auf EU-Ebene haben für den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr große Relevanz. Zielorientierte und methodengerechte Forschung kann solche Harmonisierungsvorhaben gründlich vorbereiten und während der Umsetzung begleiten. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Wenn die EU das Insolvenzanfechtungsrecht harmonisiert hat, sollte nach und nach auch das übrige Insolvenzrecht in Angriff genommen werden. Die Europäische Kommission hat das auch vor, gibt aber keine Anstöße für die notwendige Grundlagenforschung. Gibt es weitere Projektbeteiligte? Das Projekt ist aus der Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Michael Veder von der Radboud University Nijmegen/NL, unterstützt durch eine internationale Arbeitsgruppe mit Insolvenzanfechtungsrechtsexpertinnen und -experten aus allen EU-Mitgliedstaaten und dem Vereinigten Königreich, entstanden. Fachveröffentlichungen zum Projekt: Die Ergebnisse des Forschungsprojekts sind in einem Buch veröffentlicht: Bork/Veder, Harmonisation of Transactions Avoidance Laws, Cambridge/Antwerp/Chicago (Intersentia) 2022 https://www.intersentiaonline.com/library/model-law-on-transactions-avoidance-law https://intersentia.com/en/harmonisation-of-transactions-avoidance-laws.html |
Prof. Dr. Reinhard Bork hat seit 1990 die Professur für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg inne. Zu seinen Arbeitsgebieten zählen Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Wirtschaftsrecht und Zivilprozessrecht (insbes. Insolvenz- und Schiedsverfahrensrecht).
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"Wie lassen sich Finanzmärkte nachhaltig gestalten?", Prof. Dr. Wolf-Georg Ringe
"Wie lassen sich Finanzmärkte nachhaltig gestalten?"Ein Interview mit Herrn Prof. Dr. Wolf-Georg Ringe zu seinem aktuellen ForschungsprojektUm die Klimaziele zu erreichen, müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Hand in Hand arbeiten. Das gilt auch für die nachhaltige Gestaltung der Finanzmärkte. Prof. Dr. Wolf-Georg Ringe, Professor für Law & Finance an der Uni Hamburg, forscht zur Möglichkeit, die Kräfte des Marktes für die klimafreundliche Transformation zu nutzen. In unserer Serie „Forschen & Verstehen“ stellen wir Forschungsprojekte der Universität Hamburg vor. Die Europäische Kommission will Anlegerinnen und Anleger dabei unterstützen, in klimafreundliche Anlageziele zu investieren. Die sogenannte Taxonomie, also eine Definition von „nachhaltig“ in Bezug auf Finanzanlagen, soll dabei helfen. Aber sind Investitionen in Atomkraft nachhaltig? Über diese Frage wurde in den vergangenen Wochen kontrovers diskutiert. „Die Transparenz ermöglicht eine Einigung darüber, was wirklich als nachhaltig bewertet werden kann. Eine internationale Standardisierung und somit eine Vergleichbarkeit zu schaffen, das ist die Aufgabe des Rechts und der Politik“, sagt Prof. Dr. Wolf-Georg Ringe, Direktor des Instituts für Recht und Ökonomik an der Fakultät für Rechtswissenschaft. So wie im Fall der Taxonomie untersucht er, wie sich bestimmte rechtliche Vorgaben auf die Finanz- und Kapitalmärkte auswirken. Weniger einmischen, mehr ermöglichen In seinem aktuellen Forschungsprojekt geht der Jurist der Frage nach, wie man die Kapitalmärkte dafür nutzen kann, die internationalen Klimaziele zu erreichen: eher durch politische Vorgaben oder doch durch Selbstregulierung? In einem aktuellen Arbeitspapier kommt Professor Ringe zu dem Schluss, dass es eher eine zurückgenommene politische Intervention braucht: „Das Recht sollte eine ermöglichende Rolle einnehmen und auf detaillierte Regulierung auf Unternehmensebene verzichten.“ Für seine Forschung analysiert er bestehendes Recht, bringt es in Verbindung mit geplanten Regulierungen und Instrumenten, wertet empirische Befunde aus und tauscht sich mit Akteurinnen und Akteuren aus der Praxis aus. „Ich schaue mir zum Beispiel an, ob etwas, das die Europäische Kommission anstrebt, in diesem oder einem anderen Zusammenhang bereits funktioniert hat. Mögliche Auswirkungen sind ebenfalls oft schon aus der Vergangenheit bekannt.“ Für die These der möglichen Selbstregulierung spricht laut Ringe vor allem eins: die Anlegerinnen und Anleger selbst. „Die sogenannte Millennials-Generation zeigt ein deutlich anderes Anlageverhalten als Vorgängergenerationen und nennt Nachhaltigkeit als wichtigeres Ziel als die reine Erzielung von Erträgen“, so Professor Ringe. Dadurch würden sich großen Vermögensverwalter wie Blackrock, Vanguard und State Street, aber auch kleinere Fonds entsprechend ausrichten. „Die Einhaltung von Environmental-, Social- und Governance-Standards, den sogenannten ESG-Kriterien, rückt bei Investitionen immer mehr in den Fokus“, so der Jurist. Und viele Unternehmen würden sich daher von allein entsprechend aufstellen. Kooperation im Kampf gegen fossile Brennstoffe bei einem Ölkonzern Hinzu kommt Ringe zufolge die intrinsische Motivation der Fondsmanagerinnen und -manager. Die großen Fonds seien quasi in jedem Unternehmen, das auf der Welt börsengelistet ist, mit einem kleinen Anteil beteiligt. „Sie haben daher ein großes Interesse daran, dass der gesamte Markt stabil bleibt. Es ist quasi eine zwingende Logik, dass man Strategien verfolgt, die nachhaltig und langfristig orientiert sind“, erklärt Ringe. Und darüber hinaus gebe es eine verstärkte Tendenz zur Zusammenarbeit verschiedener institutioneller Investoren, da Fonds selten mehr als zwei oder drei Prozent der Anteile an einem Unternehmen hielten und entsprechend wenig Einfluss hätten: „Dem Investor „Engine No. 1“ ist es zum Beispiel gelungen, eine Allianz verschiedener Großanleger zu schmieden und so beim amerikanischen Ölkonzern ‚Exxon Mobil‘ Sitze im Vorstand zu bekommen, um diesen zu einer Abkehr von fossilen Brennstoffen zu bewegen.“ Das sei ein eingebauter Korrekturmechanismus, mit dem die Selbstregulierung durch die Anleger funktionieren könne, so Ringe. Seine Forschungsergebnisse, die er zum Beispiel auf Fachtagungen und Kongressen vorstellt, sieht Ringe zum einen als Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs, aber auch als Input für die politische Debatte: „Ich bin zum Beispiel immer wieder in Brüssel und spreche bei Anhörungen vor der Kommission oder bei Workshops mit Politikerinnen und Politikern als Experte.“ Aber klar ist laut Ringe auch: „In Brüssel werden viele verschiedene Interessen verhandelt und die Umsetzung bis zur Praxis ist sehr komplex. Das ist ein langer Weg.“ |
Prof. Dr. Wolf-Georg Ringe, M.Jur. (Oxon) hat seit 2017 die Professur für Law & Finance an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg inne und ist Direktor des Instituts für Recht und Ökonomik.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen economic analysis of law, financial regulation, corporate governance, company law and securities law, european integration, insolvency law and restructuring.
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"Das neue Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)", Svenja Langenhagen und Falko Schmidt
"Das neue Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)"Ein Interview mit Svenja Langenhagen und Falko Schmidt, Promovierende der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität HamburgIn memoriam
Prof. Dr. Peter Mankowski
Würden Sie bitte das Thema Ihres Forschungsprojektes und den aktuellen Stand kurz erläutern? Gemeinsam forschen wir – Falko Schmidt und Svenja Langenhagen - zum Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) im Rahmen eines Kommentarprojekts des Beck-Verlags. Herausgeber sind Professor Dr. Holger Fleischer vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hamburg) und Prof. Dr. Peter Mankowski von der Universität Hamburg († 10. Februar 2022). Das LkSG ist hochaktuell und bildet eine Antwort des deutschen Gesetzgebers auf das wachsende Bedürfnis nach unternehmerischer Nachhaltigkeit. Es wurde im Sommer letzten Jahres verabschiedet und verpflichtet große deutsche und auch ausländische Unternehmen mit inländischer Zweigniederlassung, menschenrechts- und umweltbezogene Risiken entlang ihrer Lieferketten angemessen zu adressieren und zu minimieren. Ziel des Gesetzes ist es, die weltweite Menschenrechts- und Umweltlage zu verbessern. Das neue deutsche LkSG gilt ab 2023 für inländische Unternehmen mit im Durschnitt mindestens 3.000 Beschäftigten. Auch ausländische Unternehmen mit Zweigniederlassung in Deutschland können erfasst sein, wenn sie den Schwellenwert von im Durchschnitt mindestens 3.000 Beschäftigten erreichen. Ab 2024 sinkt der Schwellenwert auf je 1.000 Beschäftigte und umfasst dementsprechend mehr Unternehmen. Nach Schätzungen gilt das LkSG ab 2023 damit für etwa 900 und ab 2024 für etwa 4.800 Unternehmen. Kleine und mittelständische Unternehmen werden damit regelmäßig nicht direkt erfasst.1 Sie können aber als Zulieferer oder Tochtergesellschaften mittelbar von den Sorgfaltspflichten der großen Unternehmen betroffen sein. Erfasste Unternehmen verpflichtet das LkSG künftig, unter anderem ein Risikomanagement einzurichten, regelmäßige Risikoanalysen durchzuführen und eine Grundsatzerklärung abzugeben. Zudem müssen sie gestaffelt nach Einfluss auf die Lieferkette Präventionsmaßnahmen vorsehen und bei sich realisierenden Risiken Abhilfemaßnahmen ergreifen. Diese Schritte sind zu dokumentieren und jährlich online in Berichtform zu veröffentlichen. Die Sorgfaltspflichten sollen über bloße Dokumentations- und Berichtspflichten hinausgehen. Daher verlangt das LkSG konkrete vorbeugende wie anlassbezogene Maßnahmen der Unternehmen. Durchgesetzt werden die Sorgfaltspflichten allein öffentlich-rechtlich. Eine weitergehende zivilrechtliche Haftung, als es das bisherige Deliktsrecht vorsieht, ist gerade nicht eingeführt worden. Das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) stattet das LkSG mit umfassenden Befugnissen aus. Das BAFA kann präventive Maßnahmen anordnen, um menschenrechtliche Risiken frühzeitig zu erkennen und zu beseitigen. Bei Verstößen drohen empfindliche Bußgelder sowie der Ausschluss von öffentlichen Vergabeverfahren. Das Kommentarprojekt „Fleischer/Mankowski – LkSG“ befindet sich im Endstadium und soll noch in diesem Jahr im Beck-Verlag erscheinen. Es wird die neue Materie mit wissenschaftlicher Gründlichkeit aufbereiten und soll auch der Praxis Hilfestellungen im Umgang mit der neuen Regelungsmaterie anbieten. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Die Idee zu einem „LkSG-Kommentar“ entstand über die Herausgeber Prof. Dr. Peter Mankowski († Februar 2022) und Prof. Dr. Holger Fleischer vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hamburg). Spannend ist das Thema vor allem deshalb, weil ein völlig neuartiges Gesetz entstanden ist, zu dem es weder Rechtsprechung noch ausführliche Literatur gibt. Es muss also jede Norm erforscht und auf praktische Implikationen untersucht werden, ohne auf bereits vorhandenes Wissen zurückgreifen zu können, sieht man einmal von einigen wissenschaftlichen Aufsätzen zum LkSG ab. Bei der Suche nach Autoren und Autorinnen für das Kommentarprojekt bot Herr Prof. Dr. Peter Mankowski uns – Svenja Langenhagen und Falko Schmidt (ehemalige Doktoranden von Herrn Prof. Dr. Peter Mankowski) – an, einige Paragraphen des neuen LkSG zu kommentieren. Eine wunderbare Chance, da wir beide im Bereich „Unternehmen und Nachhaltigkeit“ promovieren. Was die Autorenschaft zum Fleischer/Mankowski-LkSG-Kommentar betrifft, gibt es also zwei Gruppen – eine an der Universität Hamburg, die andere am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht. Die MPI-Seite wird vertreten durch Beiträge des Mitherausgebers Herrn Prof. Dr. Holger Fleischer sowie dessen wissenschaftliche Mitarbeiter. Die universitäre Seite wird vertreten durch Beiträge des Mitherausgebers Prof. Dr. Peter Mankowski und seine Doktoranden Svenja Langenhagen sowie Falko Schmidt. Frau Langenhagen hat sich dabei intensiv mit dem persönlichen Anwendungsbereich des LkSG auseinandergesetzt (§ 1 LkSG). Herr Schmidt hat sich eingehend den behördlichen Maßnahmen gewidmet (§§ 14-21 LkSG). Prof. Dr. Peter Mankowski ist zu unserer großen Bestürzung im Februar 2022 verstorben. Sein Lebenswerk wird den Fleischer/Mankowski-LkSG-Kommentar aber noch umfassen. Er hatte seine Beiträge kurz vor seinem plötzlichen Tod bereits fertiggestellt. Aus seiner Feder stammt die umfassende Einleitung C zum Internationalen Privatrecht und zum Internationalen Zivilverfahrensrecht sowie die Kommentierung zur besonderen Prozessstandschaft in § 11 LkSG. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Das LkSG ist von hoher gesellschaftlicher Bedeutung, weil es die teilweise katastrophalen Bedingungen in den Lieferketten vor allem im Globalen Süden verbessern soll. Anders als das Völkerrecht legt es den betroffenen Unternehmen unmittelbar bestimmte Sorgfaltspflichten auf. Dies ist gesetzgeberisch allerdings ein schwieriges Unterfangen. Die Kommentierung der konkreten Normen hilft der Unternehmenspraxis beim Umgang mit dem ganz neuen Gesetz und zeigt auch dem Gesetzgeber auf, wo in Zukunft noch Verbesserungspotential besteht. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Das Gesetz ist ein rein deutsches Gesetz. Da Lieferkettenprobleme aber im internationalen Kontext liegen, ist das deutsche Gesetz nur ein erster Schritt. Außerdem adressiert das Gesetz Umweltbelange nur rudimentär, obwohl auch insoweit viel Verbesserungspotential entlang der Lieferketten besteht. Auf Dauer wünschenswert wäre es, wenn weltweit Standards gelten würden, die die Situation in den Blick nehmen und Menschenrechts- sowie vor allem Umweltbelange intensiver ansprechen. So gäbe es nicht nur deutsche, sondern sogar internationale Spielregeln, was ein sog. level playing field bedeuten würde. Dies minimiert internationale Wettbewerbsverzerrungen. Auf dem europäischen Parkett ist das deutsche LkSG neben ähnlichen Gesetzen (etwa bereits in Frankreich, Norwegen oder den Niederlanden) einer der Vorreiter und ein wichtiger erster Schritt. Auf EU-Ebene nimmt die Thematik immerhin Fahrt auf. Es gibt im Vergleich zum LkSG mittlerweile einen weitergehenden Vorschlag der EU‑Kommission für eine Richtlinie betreffend die Nachhaltigkeitspflichten von Unternehmen (veröffentlicht im Februar 2022). Damit steht die Europäische Union zwar erst am Anfang des Gesetzgebungsprozesses. Wie genau die europäische Lösung aussehen wird, bleibt abzuwarten. Wünschenswert wäre eine zügige Entwicklung in Europa. In diesem Zuge kann Deutschland als „first mover“ vorangehen, indem das LkSG schnell und effektiv umgesetzt und im Laufe des Umsetzungsprozesses regelmäßig evaluiert wird. Wegen des Zusammenhangs der europäischen Entwicklungen mit dem deutschen LkSG wird der aktuelle Richtlinienentwurf in der Kommentierung ebenfalls ausführlich besprochen. Ob sich auch auf UN-Ebene demnächst Entwicklungen weiter konkretisieren, lässt sich gegenwärtig schwer beurteilen.
Weitere Projektbeteiligte: Prof. Dr. Holger Fleischer und weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht (Hamburg). 1 Nach der europäischen Definition gilt ein Unternehmen erst als KMU, wenn es zumindest weniger als 250 Mitarbeiter hat, vgl. https://www.ifm-bonn.org/definitionen/kmu-definition-der-eu-kommission (zuletzt aufgerufen am 20.3.2022). |
"Wann sind Kriege zwischen Staaten gerechtfertigt?", Prof. Dr. Tilman Repgen
"Wann sind Kriege zwischen Staaten gerechtfertigt?"Im 17. Jahrhundert verfasst und weiterhin aktuell: Das juristische Standardwerk von Hugo Grotius von 1631 wird an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg neu übersetzt. Prof. Dr. Tilman Repgen, Projektleiter und Dekan der Fakultät, über die Besonderheit der Abhandlung für das Völkerrecht. In Ihrem Forschungsprojekt geht es um das Werk „De jure belli ac pacis libri tres“ (Drei Bücher über das Recht des Kriegs und des Friedens), das im 17. Jahrhundert erschienen ist. Was macht es so besonders? Im 16. Jahrhundert endete die konfessionelle Einheit in Europa und in der Folge eskalierten viele Konflikte, unter anderem begann 1618 der Dreißigjährige Krieg. In dem Werk von Hugo Grotius geht es im Kern um die Frage, ob und unter welchen Umständen die Kriegsführung berechtigt ist und wie ein berechtigter Krieg geführt werden darf. Grotius war nicht der erste, der sich zu diesem Thema geäußert hat, aber er hat es auf besonders wirkungsvolle Art und Weise getan. Sein Hauptwerk war ein wichtiges Bindeglied zwischen der mittelalterlichen Tradition und dem mit Grotius beginnenden neuen Zeitalter eines Naturrechts, das sich allein auf die Vernunft gründen wollte. Der Einfluss von Grotius ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass sich danach alle Staaten an seine rechtlichen Vorstellungen gehalten hätten. Aber in der wissenschaftlichen Diskussion wurde das Werk bald nach seinem Erscheinen als Leittext zu diesen Problemen verwendet. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war es an praktisch allen Universitäten in den protestantischen Ländern Europas für die Jurastudenten ein Standardlehrwerk. In den folgenden Jahrzehnten ist es von sehr vielen namenhaften Rechtsgelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts selbst zum Gegenstand von Kommentaren gemacht worden. Was zeichnet Grotius Überlegungen aus? Er entwickelt in seinen Überlegungen eine Gesamtrechtsordnung. Wenn man Grotius fragt, wann ein Krieg gerechtfertigt sei, dann ist seine Antwort: Das hängt davon ab, ob zwischen den Staaten ein Fall von Selbsthilfe gerechtfertigt wäre. Das ist der Fall, wenn die Rechte des einen vom anderen verletzt worden sind. Grotius fasst die Staaten damit gleichsam wie private Rechtssubjekte auf. Wenn ein Bürger einem anderen einen Schaden zufügt, dann gibt es ein Rechtsverhältnis, das vor einem Gericht zum Beispiel zu Schadensersatz führen kann. Unter sehr engen Voraussetzungen gibt es Wege der Selbsthilfe, etwa, wenn gerichtliche Hilfe nicht rechtzeitig erlangt werden kann. Für die Beziehung zwischen Staaten stellt Grotius aber fest: „ubi iudicia deficiunt, incipit bellum“ – wo die gerichtlichen Entscheidungen fehlen, da beginnt der Krieg. Es ist also für Grotius wichtig, ausführlich über die Frage nachzudenken, wann denn das Recht eines Staates eigentlich verletzt ist und was der Inhalt dieses Rechts ist. Er hat gewissermaßen eine gesamte Rechtsordnung dazu entwickelt, die zwar das Recht des Krieges und des Friedens als Aufhänger hat, aber auch viele andere Rechtsfragen behandelt. Und da ist Grotius in vielen Punkten sehr innovativ gewesen. Daher hatte es auch einen so durchschlagenden Erfolg in der Wissenschaft. Wo die gerichtlichen Entscheidungen fehlen, da beginnt der Krieg. Es gibt Übersetzungen in zwölf Sprachen, wobei sich die Qualität stark unterscheidet. Wir möchten nun eine neue deutsche Fassung auflegen. Ein wichtiger Grund ist die unklare Textgrundlage für die momentan hauptsächlich verwendete Übersetzung von Walter Schätzel aus dem Jahr 1950 – die darüber hinaus auch sehr viele sinnentstellende Fehler enthält. Der Herausgeber sagt in seinem Vorwort, dass er die Erstausgabe von 1625 zugrunde gelegt hat, doch es wurde schon kurz nach Erscheinen nachgewiesen, dass Schätzel einem Irrtum unterlag und er eine spätere Ausgabe des Buches verwendet hat. Grotius hat insgesamt fünf bearbeitete und erweiterte Neuauflagen herausgegeben, und heute ist es Konsens in der Forschung, dass die Ausgabe von 1631 als der beste und vollständigste Text anzusehen ist. Wir werden sie daher auch als Grundlage für unsere Übersetzung nehmen, wobei die anderen Fassungen von Grotius‘ Hand in einem Anmerkungsapparat berücksichtigt werden. Zudem ist die Veröffentlichung von 1950 eine einsprachige Veröffentlichung, das heißt, dort findet man nur den übersetzen Text. Wer dieses Buch liest, hat gar nicht die Chance zu prüfen, ob die Übersetzung auch stimmt. Das ist für die wissenschaftliche Bearbeitung ein Nachteil; daher werden wir eine lateinisch-deutsche Fassung publizieren. Braucht man ein solches Werk denn heute noch, wo es zum Beispiel Institutionen wie den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und den Weg der Verhandlung gibt? Auch früher gab es die Gelegenheit, über Streitfragen zu verhandeln, und die wurde durchaus wahrgenommen. Bleibt noch die Frage nach dem Gericht als Institution – und da müssen wir sagen, dass wir heute nicht sehr viel weiter sind als früher. Insofern sind die Grundfragen von Grotius auch heute noch aktuell. Natürlich gibt es auf der Ebene der Europäischen Union und der Vereinten Nationen Versuche, Kriege zumindest mehr einzuengen. Kriegsgründe sind heute nicht mehr so vielfältig wie noch zu Grotius‘ Zeiten. Aber das eigentliche Kernproblem ist noch nicht gelöst: Es gibt keine weltumspannende Gerichtsbarkeit, die von allen anerkannt wäre, und auch keinen Weltpolizisten, der die Gerichtsurteile dann durchsetzt. Wir würden uns ja wünschen, dass man Konflikte zwischen Staaten und Völkern vor dem Internationalen Gerichtshof lösen würde, aber tatsächlich sehen wir ja, dass überall auf der Welt genau das Gegenteil stattfindet. Unser Buch geht über die Tagesaktualität hinaus und bezweckt nicht die Kommentierung aktueller politischer Ereignisse, sondern leistet Grundlagenforschung. Selbstverständlich wird es eine wissenschaftliche Einführung geben, sodass man den Kontext begreift und auch sieht, was Grotius mit dem Werk eigentlich leistet.
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Prof. Dr. Tilman Repgen hat seit 2002 die Professur für Deutsche Rechtsgeschichte, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Bürgerliches Recht an der Fakultät für Rechtswissenschaft inne und ist seit dem 1. Oktober 2010 Dekan der Fakultät für Rechtswissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Grundlagen des Zivilrechts, insb. Freiheit, Privatautonomie und Eigenverantwortlichkeit in historischer und aktueller Betrachtung; das Hamburger Recht im Mittelalter und in der frühen Neuzeit; die Geschichte des BGB von 1900; die Geschichte des Mietrechts und die Beweislast im Schuldrecht.
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"Decision-making of Frontline Humanitarian Negotiators: Experimental Insights", Prof. Dr. iur. et lic. rer. pol. Anne van Aaken
"Decision-making of Frontline Humanitarian Negotiators: Experimental Insights"Ein Interview mit Frau Prof. Dr. iur. et lic. rer. pol. Anne van Aaken zu ihrem aktuellen Forschungsprojekt.Wie rational entscheiden Menschen unter extremen Bedingungen? Das Forschungsprojekt untersucht das Entscheidungsverhalten von Unterhändlern in humanitären Fragen in Kooperation mit den Compentence Center for Humanitarian Organizations (CCHN), welches von diversen humanitären Organisation gestützt wird und beim IKRK angesiedelt ist. Das Projekt bedient sich experimenteller Methoden(Vignettestudien). Das erste Teilprojekt untersucht klassische Abweichungen vom Rationalverhalten (biases and heuristics), die zu – im humanitären Bereich – fatalen Fehlentscheidungen führen können. Es wurden sowohl die Unterhändler als Experten getestet, als auch die allgemeine Bevölkerung. Manche Fragen waren im humanitären Kontext, andere in neutralem Kontext. Die Experten zeigen weniger Abweichungen vom Rationalverhalten als Laien, aber nur, wenn sie im humanitären Kontext entscheiden. Ein weiteres, noch laufendes Projekt untersucht die Interpretation des humanitären Völkerrechts in verschiedenen Konstellationen. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant?
Lange Zeit ging man von rationalen Akteuren aus, auch im Völkerrecht. Diese Verhaltensannahmen werden seit ca. 40 Jahren durch verhaltensökonomische, oft experimentelle Forschung in Frage gestellt – Menschen handeln nur begrenzt rational und nur begrenzt eigennützig, aber Experten zeigen begrenzte Rationalität nicht immer. Die Erkenntnisse werden nun vermehrt auch im Völkerrecht relevant. So verwenden die Vereinten Nationen vermehrt verhaltensökonomische Forschung, um ihre Ziele zu erreichen. Im humanitären Völkerrecht wurden sie bislang wenig verwendet und noch weniger getestet. Aber nur empirisches Wissen über das tatsächliche Verhalten kann als gesicherte Grundlage für richtiges Training und Rat dienen. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten?
Humanitäre Hilfe ist von entscheidender Bedeutung für Millionen von Menschen. Die Verhandlungen über den Zugang der humanitären Organisationen zu den Hilfsbedürftigen ist dabei entscheidend. Die Untersuchung des Entscheidungsverhaltens im humanitären Völkerrecht ist daher von großer Relevanz für den Erfolg der humanitären Hilfe. Entsprechende Schulung, auch im Hinblick auf potentieller kognitive Abweichungen der Unterhändler, kann entscheidend sein für den Erfolg einer humanitären Mission. Welche zukünftigen Entwicklungen bzw. Veränderungen wären wünschenswert?
Verhaltensökonomische Experimente werden zumeist mit Studierenden durchgeführt. Die externe Validität ist daher nicht unbedingt gegeben. Es wäre wünschenswert, vermehrt Zugang zu Experten zu erhalten, insbesondere, wenn die Vereinten Nationen die verhaltensökonomischen Erkenntnisse vermehrt verwenden wollen. Projektpartner
Projektpartner ist das Compentence Center for Humanitarian Organizations (CCHN). Die Forschergruppe besteht aus Alexander von Humboldt Professorin Anne van Aaken, Institut für Recht und Ökonomik, UHH; Prof. Tomer Broude, Hebrew University, Jerusalem; Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Engel, Max Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern; Katharina Luckner, Institut für Recht und Ökonomik, UHH.
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Prof. Dr. iur. et lic. rer. pol. Anne van Aaken hat seit 2018 die Alexander von Humboldt Professur für Law and Economics, Rechtstheorie, Völker- und Europarecht an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg inne und ist Direktorin des Instituts für Recht und Ökonomik.
Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Völkerrecht, insbesondere internationales Wirtschaftsrecht, Investitionsschutzrecht, Menschenrechte und Völkerrechtstheorien, (Verhaltens-)Ökonomik, Rechtstheorie und deliberative Theorien, Korruption, Gesetzesfolgenabschätzung sowie Staatshaftung und Verantwortlichkeit.
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"GEOSTOR", Prof. Dr. Alexander Proelß
"GEOSTOR"Ein Interview mit Prof. Dr. Alexander Proelß zu seinem aktuellen Forschungsprojekt„GEOSTOR“ ist ein vom BMBF im Rahmen der Forschungsmission „Meere als Kohlenstoffspeicher“ der Deutschen Allianz Meeresforschung gefördertes interdisziplinäres Verbundprojekt. Es zielt darauf ab, geeignete Speicherformationen zu identifizieren und eine „Roadmap“ für die Umsetzung der CO2-Speicherung im Bereich der deutschen Nordsee zu entwickeln. Das von mir verantwortete rechtswissenschaftliche Teilprojekt untersucht und bewertet die rechtlichen Rahmenbedingungen für die CO2-Speicherung im Meeresuntergrund der deutschen Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) – und damit im deutschen Festlandsockel – in der Nordsee. Es prüft, ob und unter welchen rechtlichen Voraussetzungen Demonstrationsprojekte zur CO2-Speicherung unter der Nordsee durchgeführt werden können, und identifiziert etwaige Reformbedarfe auf den Ebenen des internationalen, europäischen und nationalen Rechts. Zugleich wirkt es an der Entwicklung von Kriterien zur Integration der CO2-Speicherung in die Raumplanung für die deutschen Nordsee sowie an der Identifikation und rechtlichen Bewältigung von Nutzungskonflikten (oder der Herstellung von Synergien), zu denen es in der Folge des Betriebs von unterseeischen CO2-Speicherstätten kommen könnte, mit. Insgesamt zielt es sowohl auf die Klärung offener Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Erschließung und Nutzung mariner Kohlenstoffspeicher als Dekarbonisierungspfad als auch auf die Vermeidung und Auflösung von Nutzungs- und Zielkonflikten – letztlich also auf die nachhaltige Nutzung des unter deutscher Hoheitsgewalt stehenden Meeresraums – ab. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Die Forschungsmission, in deren Rahmen „GEOSTOR“ gefördert wird, basiert auf dem Umstand, dass es an plausiblen Szenarien fehlt, wie das mit dem Klimaschutzübereinkommen von Paris vereinbarte Ziel, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2°C zu begrenzen, allein durch Emissionsvermeidung erreicht werden kann. Mehr und mehr setzt sich die Einsicht durch, dass flankierend Teile des bereits ausgestoßenen CO2 wieder aus der Atmosphäre entnommen und gespeichert werden müssen. Da der Ozean mit seinen Funktionen als Wärme- und Kohlenstoffspeicher einer der wichtigsten Regulatoren des Klimas ist, geraten zunehmend marine Methoden der CO2-Entnahme in den Blickpunkt. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist dieses Thema aus mehreren Gründen besonders interessant. In Anbetracht des Umstands, dass es die CO2-Speicherung in einem Raum untersucht, der keiner einzelstaatlichen Souveränität untersteht, sind bei der Frage der Zulässigkeit dieser Aktivität zunächst die Anforderungen sowohl des internationalen und europäischen als auch des nationalen Rechts zu beachten. Die unterseeische der CO2-Speicherung ist daher ein prototypisches Beispiel für die heutige Mehr-Ebenen-Struktur des Rechts, mit der zugleich die Gefahr von Normkollisionen und Umsetzungsschwierigkeiten einhergehen. Zugleich stellen sich innerhalb Deutschlands schwierige Fragen im Hinblick auf die Aufteilung der Gesetzgebungs- und der Verwaltungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. In Deutschland fehlt es bislang ganz an einer umfassenden Untersuchung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die unterseeische Speicherung von CO2, einschließlich der Möglichkeiten, diese Aktivität mit den Anforderungen des Naturschutzrechts und des Rechts der sonstigen Meeresnutzung in Einklang zu bringen. Insofern verknüpft das Projekt traditionelle Vertrags- und Gesetzesauslegung mit der zukunftsbezogenen Erarbeitung von Vorschlägen für künftige Anpassungen des Rechts, etwa wenn in enger Abstimmung mit anderen an „GEOSTOR“ beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Kriterien für eine künftige Integration der CO2-Speicherung in die Raumplanung für die deutschen Nordsee identifiziert werden sollen. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Das Forschungsprojekt untersucht rechtliche Rahmenbedingungen einer Tätigkeit, mit der auf den Klimawandel reagiert werden soll. Es verfügt daher über hohe gesamtgesellschaftliche Relevanz. Gegenstand des Projekts ist nicht nur, ob und unter welchen rechtlichen Voraussetzungen Demonstrationsprojekte zur CO2-Speicherung im Untergrund der Nordsee durchgeführt werden dürfen, sondern es zielt auch auf die Identifizierung von Reformbedarfen auf den Ebenen des internationalen, europäischen und nationalen Rechts ab. Damit kann es politische Entscheidungsträgerinnen und Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Ob CO2 im Meeresuntergrund gespeichert werden soll bzw. entsprechende Aktivitäten wünschenswert sind, ist primär eine politische und gesamtgesellschaftliche Frage. Aus spezifisch rechtswissenschaftlicher Perspektive kann sie nicht beantwortet werden. Insgesamt sollte das primäre Augenmerk der nationalen und internationalen Klimaschutzpolitik auf einer drastischen Reduktion der CO2-Emissionen liegen. Für den Fall, dass die globalen Einsparungen nicht ausreichen, um die Folgen des Klimawandels auf ein für Menschheit und Umwelt erträgliches Maß zu begrenzen, ist es aber wichtig, vorsorglich das Potential von Entnahme- und Speichertechniken zu erforschen. Dazu gehört auch, im Vorhinein – u.a. mit den Mitteln des Rechts – sicherzustellen, dass durch den Einsatz dieser Techniken andere Umweltgüter nicht oder nur in geringstmöglichem Umfang geschädigt werden. Dies kann auch den Anlass für Anpassungen des geltenden Rechts bilden. Gibt es weitere Projektbeteiligte? „GEOSTOR“ ist ein interdisziplinäres Verbundprojekt, an dem insgesamt acht Einrichtungen aus Wissenschaft und Industrie beteiligt sind. Es wird unter der Leitung des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel durchgeführt. |
Seit dem 1. Oktober 2018 hat Prof. Dr. Alexander Proelß die Professur für internationales Seerecht und Umweltrecht, Völkerrecht und Öffentliches Recht an der Universität Hamburg inne.
Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen neben Aspekten des allgemeinen Völker- und Europarechts vor allem das internationale See- und Umweltrecht, das Außenverfassungsrecht sowie ausgewählte Bereiche des nationalen Umweltrechts.
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"Economics of Compliance with Constitutions", Prof. Dr. rer. pol. Stefan Voigt
"Economics of Compliance with Constitutions"Ein Interview mit Prof. Dr. rer. pol. Stefan Voigt zu seinem aktuellen ForschungsprojektIn dem Projekt "Economics of Compliance with Constitutions" fragen wir nach den Faktoren, die dazu führen, dass eine Regierung sich an die in der Verfassung genannten Beschränkungen hält – oder das eben nicht tut. Durch den Vergleich von Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit lässt sich die Einhaltung von Verfassungen über Länder und die Zeit hinweg quantifizieren. Wir haben einen umfangreichen Datensatz geschaffen, der die Einhaltung von 14 Verfassungsregeln seit 1900 erfasst. Als mögliche Erklärungsfaktoren haben wir Merkmale politischer Führer und Parteien, die Kultur eines Landes, sowie politische, wirtschaftliche und sonstige Schocks auf ein Land untersucht. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Die Einhaltung von Verfassungsregeln ist aus sozialwissenschaftlicher Sicht nicht ganz einfach zu erklären, da es keine übergeordnete Instanz gibt, die die staatlichen Gewalten zu regelkonformem Verhalten zwingen könnte. Zu verstehen, welche Faktoren es begünstigen, dass Verfassungsregeln befolgt werden, sollte nicht nur für Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler, sondern auch für die Politik und die Öffentlichkeit von großem Interesse sein. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Als Ergebnis aus dem Forschungsprojekt können wir jetzt mehr darüber sagen, unter welchen Bedingungen Verfassungen wirksam sind. Einige dieser Faktoren – wie etwa die Kultur einer Gesellschaft – sind nur schwer zu beeinflussen und müssen somit hingenommen werden. Dies bei der Genese neuer Verfassungen zu berücksichtigen kann dazu beitragen, dass der de jure/de facto-gap geringer wird. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Verfassungen sollten stärker evidenzbasiert geschrieben und weiterentwickelt werden. Verfassungen sollten nicht nur von Eliten nach deren Interessen geschrieben werden, sondern sie müssen von einer gut informierten Zivilgesellschaft begleitet werden. Anekdotische Evidenz, wie sie in der klassischen Rechtsvergleichung herangezogen wurde kann dafür nur ein erster Schritt sein. Gibt es weitere Projektbeteiligte? Das Projekt ist ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Wissenschaftlern der Universitäten Warschau und Hamburg. Es wird im Rahmen der Beethoven-Initiative von der DFG und ihrem polnischen Pendant, dem NCN, gefördert.
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"Outstanding Women of International, European and Constitutional Law", Verena Kahl
"Outstanding Women of International, European and Constitutional Law"Ein Interview mit Verena Kahl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Markus Kotzur.Das Projekt „Outstanding Women in International, European and Constitutional Law“ ist eine Initiative junger Wissenschaftler*innen und Studierender, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das Werk und Wirken herausragender Juristinnen vorzustellen und ihre besonderen Beiträge zum Völker-, Europa- und Verfassungsrecht in der nationalen wie internationalen Rechtswissenschaft bekannt(er) zu machen. Zu diesem Zweck wurde für das Jahr 2022 ein Kalender in englischer Sprache herausgegeben, der 12 Porträts mit Bildern, Zitaten und Kurzbeschreibungen bedeutender Frauen enthält. Ausführliche Darstellungen der Porträts sind in der Digitalversion des Kalenders auf der Website des Projekts einsehbar. Die zweite Auflage des Kalenders für das Jahr 2023 wird Ende 2022 erscheinen. Ferner soll ein Podcast mit Interviews über und mit diesen und weiteren herausragenden Juristinnen zu ihrem Werk und Wirken erscheinen. In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Während meiner Lehrtätigkeit musste ich feststellen, dass unsere Seminare bisweilen ausschließlich die Theorien und Beiträge männlicher Autoren zum Gegenstand haben. Hieraus entstand die Motivation, ein Seminar zu konzipieren, dass sich herausragenden Frauen und ihren Werken im Völker-, Europa-, und Verfassungsrecht widmet. Neben Ikonen, wie Ruth Bader Ginsburg und Rosalyn Higgins, offenbarten die Vorträge der Studierenden auch viele bedeutende Rechtsbeiträge von Frauen, von denen wir bisweilen noch nie gehört hatten. Dies gab den Anstoß dazu, herausragende Wissenschaftlerinnen, Richterinnen und andere Pionierinnen des Rechts zu porträtieren, um ihr Leben und Werk einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und angemessen zu würdigen. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? In einer Gesellschaft, die selbst noch stark von patriarchalen Strukturen und vielfältigen Diskriminierungsmustern geprägt ist, kann die Sichtbarmachung und Würdigung des Werks von bedeutenden Frauen zu einem kontinuierlichen, schrittweisen Wandel beitragen, der sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der Rechtswissenschaft vollzieht und diese Strukturen aufzubrechen ersucht. Forschung kann somit einen Beitrag dazu leisten, ansonsten verloren gegangene Beiträge herausragender Juristinnen in den rechtswissenschaftlichen Diskurs einzupflegen und ihr Leben und Werk innerhalb und außerhalb der Rechtswissenschaft bekannt zu machen sowie angemessen zu würdigen. Eine weitreichende Rezeption ihres Oeuvres wird erst durch entsprechende Forschung und anschließende Distribution ihrer Beiträge möglich. Aufgrund ihrer hierdurch geförderten Bekanntheit können diese Frauen dann ihrerseits als Vorbilder für den weiblichen juristischen Nachwuchs dienen. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Juristische Forschung sollte dazu beitragen, die Strukturen, welche die Sichtbarkeit und Würdigung des Werkes von Frauen in der Rechtswissenschaft erheblich erschweren, darzulegen und Wege aufzuzeigen, diese zu durchbrechen. Dies erfordert auch einen kritischen Blick auf die eigenen Strukturen und Mechanismen, die ebenso Lehre und Forschung wie auch Aus, Fort- und Weiterbildung sowie Rekrutierung und Karriereförderung betreffen. Projekte, wie das vorliegende, geben bestenfalls den Anstoß zu weiterer Forschung und Wissenschaftskommunikation zu diesen und anderen bedeutenden Frauen in der Rechtswissenschaft sowie die Integration ihrer Werke in bestehende sowie künftige Lehre und Forschung. Gibt es weitere Projektbeteiligte? Das Projekt ist ein Gemeinschaftsprojekt von wissenschaftlichen Mitarbeitenden am Lehrstuhl von Prof. Dr. Markus Kotzur (LL.M. Duke), Institut für Internationale Angelegenheiten (IAA) und Studierenden der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Hamburg. Es wird vom Gleichstellungsreferat der Fakultät für Rechtswissenschaft gefördert.
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"The Decision Architecture of Proportionality: Experiments with German Administrative Law Judges", Anne van Aaken und Roee Sarel
"The Decision Architecture of Proportionality: Experiments with German Administrative Law Judges"Ein Interview mit Prof. Dr. Anne van Aaken und Prof. Dr. Roee SarelDie Verhältnismäßigkeitsprüfung ist ein Grundpfeiler des deutschen, europäischen und internationalen Rechtes. Sie wird, in der Rechtswissenschaft, zumeist als rationales Entscheidungsverfahren betrachtet. Wie rational ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung aber in der Realität? Die Verhaltensökonomik und die kognitive Psychologie untersuchen Abweichungen vom Rationalwahlmodell im Allgemeinen (biases and heuristics) und Rechtsanwendern, auch Richter:innen, im Besonderen. Zahlreiche Untersuchungen mit zumeist US-amerikanischen Richter:innen zeigen erhebliche Abweichungen vom Rationalverhalten. Wir wissen jedoch auch, dass Experten, je nach Kontext, nicht immer begrenze Rationalität zeigen; mithin Experimente mit Studierenden nicht einfach übertragen werden können auf andere Situationen und Personen; die externe Validität der Ergebnisse mithin beeinträchtigt ist. Zeigen also Richter:innen begrenzte Rationalität bei Verhältnismäßigkeitsentscheidungen? In welchem Kontext entstand die Idee zu Ihrem Forschungsprojekt? Was ist an dem Thema besonders interessant? Aufgrund der Zentralität der Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Rechtswissenschaft, gekoppelt mit dem Wissen um die begrenzte Rationalität, ergab sich die Frage, ob und inwieweit die Art und Weise, wie einzelne Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dargestellt werden (und gegebenenfalls manipuliert werden können), die Entscheidungsfindung der Richter:innen beeinflussen. Bislang gab es solche Untersuchungen nicht und insbesondere nicht mit Richter:innen. In unseren Experimenten bekamen die Personen die Beschreibung eines Rechtsfalles und mussten beantworten, ob das beschriebene Gesetz verhältnismäßig ist. Die Beschreibung des Falles wurde manipuliert, um so biases zu finden, die in vorigen Studien nachgewiesen wurden. Beispielsweise wurde in einem Fall das Gesetz in einer Version als „eine gesunde Umwelt fördernd“ und in der anderen Version als "eine ungesunde Umwelt vermeidend” beschrieben: letzteres deutet auf die Vermeidung eines Verlustes hin, ersteres auf einen angestrebten Gewinn. Das Konzept der Verlustaversion – nämlich, dass Menschen Verluste höher gewichten als gleich große Gewinne, kann dann dazu führen, dass Menschen eine Maßnahme befürworten, wenn sie als Verhinderung eines Verlusts dargestellt wird, aber weniger, wenn sie als Erzielung eines Gewinns dargestellt wird. Wir testeten nicht nur Richter:innen der Verwaltungsrichterschaft, sondern auch Studierende der Rechtswissenschaft, sowie Studierende anderer Fachrichtungen. Während Richter:innen keine Abweichungen vom Rationalverhalten zeigen (Verlustaversion, Framing), wenn, und nur wenn, sie im professionellen Kontext entscheiden (in neutralen Kontexten zeigen sie Abweichungen vom Rationalverhalten), zeigen Studierende der Rechtswissenschaft diese weniger als Studierende anderer Fachrichtungen. Die gute Nachricht ist daher, dass Richter:innen ihre Entscheidung nicht davon abhängig machen, wie das Entscheidungsproblem dargestellt wird – Erfahrung und Professionalität hilft, im professionellen Kontext kognitive Fehler zu vermeiden. Welche gesellschaftliche Relevanz hat das Forschungsprojekt? Was kann die Forschung in diesem Zusammenhang leisten? Bislang werden die meisten verhaltensökonomischen Experimente mit Studierenden durchgeführt. Aufgrund dessen werden policy Vorschläge gemacht und Training entworfen. Unsere Forschung zeigt, dass differenziert werden muss. Ergebnisse von Untersuchungen mit Studierenden können nicht einfach auf Experten übertragen werden. Mit anderen Worten – Abweichungen vom Rationalverhalten sind kontext- und erfahrungsabhängig. Dies muss bei Regulierungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Während wir einerseits verhaltensökonomische Effekte in der Verhältnismäßigkeitsprüfung finden, welches die traditionelle Sichtweise als einen voll rationalen Entscheidungsprozess in Frage stellt, sind andererseits die Experten in ihren Entscheidungen näher an dem Rationalwahlmodell. Zudem zeigen Richter:innen nur im Rahmen ihrer Expertise Immunität gegen Abweichungen vom Rationalverhalten, nicht aber in anderen, neutralen Kontexten. Welche zukünftigen Entwicklungen/Veränderungen wären wünschenswert? Wenn Regulierungsmaßnahmen, auch für Experten, auf verhaltensökonomischen Erkenntnissen basieren, wäre es wünschenswert, kontext- und expertisenbezogen Experimente durchzuführen.
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