Gutachtenstil

Eine Funktion des Gutachtenstils ist es, die für die jeweilige Fallfrage („Hat A gegen B einen Zahlungsanspruch?“ „Hat C sich wegen Körperverletzung strafbar gemacht?“ „Verletzt ein bestimmtes Urteil den D in seiner Berufsfreiheit?“) stringent in Einzelfragen zu untergliedern und den Zusammenhang dieser Einzelfragen deutlich zu machen. Das Gutachten legt also dar, von welchen Unterfragen die Fallfrage abhängt.
Diese Gliederung der Untersuchung in Unterfragen hängt von der Struktur der angewandten Normen ab. Ein Gutachten stringent aufzubauen, setzt also Kenntnisse über die Zusammensetzung von Normen in Tatbestand und Rechtsfolge sowie die Zusammenhänge zwischen Anspruchsnormen, Hilfsnormen wie etwa Definitionen und Gegennormen voraus. Hier besteht eine unmittelbare Verbindung zum Tiefenlernen: ein Verständnis für die Funktion einzelner Normen, die Struktur von Normbereichen und die Zusammenhänge oder das Verhältnis unterschiedlicher Normen zueinander ist typisch für Tiefenlerntechniken, effektuiert den Lernprozess und macht zugleich die Stringenz eines Gutachtens aus.
Diese logische Struktur des Gutachtens wie auch die Auslegung der einzelnen Normen beschränken sich auf die normative Seite des Gutachtens, also der Frage, wie die einzelnen Normen unabhängig von dem konkreten Sachverhalt allgemein zusammenhängen. Demgegenüber lässt sich die Subsumtion als „Anwendung der Norm auf den Einzelfall“, als Abgleich der im Sachverhalt geschilderten Wirklichkeit mit den Voraussetzungen des normativen Gerüsts verstehen.
Gutachtenstil bezeichnet in der Gegenüberstellung zum sog. Urteilsstil schließlich noch eine bestimmte, ergebnisoffene Form der Darstellung. Die Leserführung im Gutachtenstil entwickelt sich von der Fragestellung über die Darstellung der logischen Voraussetzungen, die Auslegung der Voraussetzungen einer Norm, deren Subsumtion im Einzelfall zum Ergebnis führt, während der Urteilsstil das Ergebnis voranstellt. Hinsichtlich der Intensität oder des Umfangs der Auslegung oder der Subsumtion unterscheiden Gutachten- und Urteilsstil sich nicht unbedingt. In Klausuren empfiehlt sich zur angemessenen Schwerpunktsetzung eine reflektierte Kombination aus Urteils-, Gutachten- und verkürztem Gutachtenstil.

Die Subsumtion innerhalb eines Gutachtens meint die Prüfung, ob ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal einer Norm in der im Sachverhalt geschilderten Lebenswirklichkeit erfüllt ist. Schulmäßig und stark vereinfacht erfolgt diese Prüfung in der Form eines syllogistischen Schlusses: die zu prüfende Frage wird als Hypothese aufgeworfen („Fraglich ist, ob elektrischer Strom eine fremde, bewegliche Sache darstellt“). Dann wird in einem Obersatz der relevante Teil der Norm näher definiert („Sache ist jeder körperliche Gegenstand“). Anschließend werden die Elemente aus dem Sachverhalt genannt und aufbereitet, die für oder gegen die in der Definition genannten Merkmale sprechen, sog. Untersatz („Elektrischer Strom besteht aus einer Vielzahl kleinster Teilchen, die sich innerhalb eines Leiters von einem Spannungspotential zu einem anderen Spannungspotential bewegen. Diese Zusammensetzung aus kleinsten Teilchen spricht dafür, elektrischen Strom als gegenständlich zu verstehen. Allerdings lassen sich diese Teilchen nicht speichern oder lagern, sie liegen vielmehr innerhalb eines Leiters in Form von Spannung an. Zudem lassen sich auch andere unkörperliche Elemente wie insbesondere Licht zwar nicht nur, aber zumindest auch als Formation kleinster Teile verstehen, sog. Welle-Teilchen-Dualismus. Elektrischer Strom stellt daher keinen körperlichen Gegenstand dar.“). Daran schließt sich die kurze Feststellung des Ergebnisses an („Elektrischer Strom ist damit keine Sache“).
Die Qualität dieser Subsumtion eines Sachverhalts unter eine Norm hängt wesentlich von der Argumentation ab, ob in dem konkreten Sachverhalt die Voraussetzungen der Definition erfüllt sind: Wie reichhaltig, differenziert und unterschiedlich sind die angeführten Argumente? Sind die Argumente angemessen gewichtet und plausibel zueinander in Beziehung gesetzt?
Auch wenn diese Art der Darstellung Studierenden zu Beginn des Studiums erfahrungsgemäß Schwierigkeiten bereitet, liegen die anspruchsvolleren Probleme bei der Lösung typischer Klausursachverhalte oftmals weniger in der Subsumtion des konkreten Sachverhalts als in der Auslegung, welche Bedeutung einem bestimmten Tatbestandsmerkmal zukommt.

An einigen Stellen im juristischen Gutachten ist die Bedeutung bestimmter Tatbestandsmerkmale nicht hinreichend klar. Das hat zur Folge, dass eine subsumtionsfähige Definition, also der Obersatz der Definition, erst entwickelt werden muss. Eine solche Unklarheit kann unterschiedliche Ursachen haben. So kann es verschiedene Verständnisse eines bestimmten Tatbestandsmerkmals geben, hinter denen unter Umständen „Theorien“, „Lehren“ oder „Ansichten“ als vertypte Zusammenstellungen von Argumenten, ihrer Gewichtung und Bewertung stehen („Was bedeutet ‚Vermögensschaden‘ im Strafrecht?“ „Was bedeutet ‚bedingter Vorsatz‘?“). Unter Umständen kann es sein, dass eine bekannte und anerkannte Definition für die Einordnung des konkreten Sachverhalts weder in die eine noch in die andere Richtung einen Anhaltspunkt liefert. Ähnliche Schwierigkeiten können sich bei der Frage stellen, ob eine bestimmte Norm im konkreten Fall überhaupt anwendbar ist. Oder es gibt zu einzelnen Tatbestandsmerkmalen keine (dem Rechtsanwender bekannte) gesetzliche oder allgemein anerkannte Definition. Je schwieriger es im Einzelfall ist, die Bedeutung eines für die Fallfrage relevanten Tatbestandsmerkmals zu entwickeln, desto eher liegt bei dieser Frage ein Schwerpunkt des Gutachtens, dessen Bearbeitung für die Überzeugungskraft und Qualität von besonderer Bedeutung ist. Stilistisch entspricht dieser Schwerpunktsetzung eine ausführliche Erörterung im Gutachtenstil.
Die Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale auf der Grundlage der klassischen Auslegungsmethoden weist ebenfalls enge Bezugspunkte zur Lerntechnik von Tiefenlernern auf, die sich für Zusammenhänge zwischen Normen und Rechtsbereichen interessieren und von sich aus beim Lernen Aussagen kritisch prüfen. Indem Tiefenlerner bereits beim Erschließen des materiellen Rechts die neuen Inhalte kritisch prüfen, setzen sie sich auf der Grundlage systematischer und teleologischer Auslegung damit auseinander. Diese auf das Herstellen von Zusammenhängen gerichtete Perspektive erhöht das Vermögen, differenziert zu argumentieren. Das Herstellen der Zusammenhänge erleichtert es zugleich, neue, daran anknüpfende Inhalte schneller zu begreifen und die erlernten Inhalte zu behalten. Schließlich führt das kritische Prüfen beim Lernen zur Einübung der Argumentation.